Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 12./15.) 183
durch die Vorsehung zu einem Zeitpunkt abberufen worden, wo kein
Reichstag versammelt war und selbst kein Reichstag existierte, welcher
an der Bahre des großen Toten dem Schmerz und der Trauer hätte
Ausdruck geben können, der die Vertreter des deutschen Volkes im
Namen dieses Volkes beseelte. In sehr dankenswerter Weise hat zwar
ein Mitglied des früheren Präsidiums des Reichstages, unser sehr ver-
ehrter Kollege Herr Dr. Spahn, diesem Mangel abzuhelfen sich be-
müht, und wir sind ihm dafür zu vielem Danke verpflichtet, jedoch kann
dieser Umstand den neugewählten Reichstag nicht davon entbinden, noch
vor Eintritt in seine geschäftliche Thätigkeit seinem Schmerze und seiner
Trauer über den Verlust des großen Deutschen feierlich Ausdruck zu geben.
Meine Herren! Wenn schon die Pietät für den großen Toten alle An-
gehörigen des Deutschen Reiches anweist, das Andenken an seine unsterb-
lichen Verdienste zu ehren und dieser Ehrung einen feierlichen Ausdruck zu
geben, so tritt für uns Mitglieder des Reichstages noch ein Grund be-
sonderer Dankbarkeit hinzu. M. H., wenn wir hier als Vertreter des
deutschen Volkes tagen, so haben wir dies in erster Linie dem verewigten
Kanzler zu verdanken. (Beifall rechts.) Es ist eine geschichtliche Thatsache,
daß die Basis, auf welcher der Reichstag beruht, das Wahlgesetz, auf
Grund dessen die Abgeordneten gewählt werden, lediglich dem maßgebenden
Einfluß des ersten Kanzlers zu danken ist. M. H., Fürst Bismarck war
ein großer, gewaltiger Staatsmann, der sich die höchsten Ziele zur Einigung
und zum Wohle des Vaterlandes gesetzt hat. Daß er bei der Wahl der
Mittel, um diese Ziele zu erreichen, sowohl mit Parteien, als auch mit
Personen dieses hohen Hauses in scharfe Konflikte gekommen ist, wer könnte
es leugnen? Jedoch, meine Herren, auch für diejenigen, welche dem großen
Kanzler in diesen Konflikten scharf gegenüberstanden, liegt kein Grund vor,
die feierliche Ehrung zu verweigern. (Beifall). Die Majestät des Todes ver-
klärt alles. Was Parteien und Personen aus unserer Mitte an dem Fürsten
Bismarck zu seinen Lebzeiten bekämpften, ist, soweit es persönlicher Natur
war, mit seiner sterblichen Hülle begraben. Das Andenken des Fürsten
Bismarck steht vor uns als das des großen Staatsmannes, des hervor-
ragenden Mitbegründers des Reiches, des Vorbereiters und Ausnutzers der
unsterblichen Siege unseres unvergleichlichen Heeres (Beifall) und nach diesen
Siegen des Erhalters eines jahrzentelang dauernden, segensreichen Friedens.
(Beifall.) So steht das Bild Ottos v. Bismarck vor unserer Seele, und
unter dieses Bild könnte man die Worte des römischen Dichters setzen:
Quis tot sustineat, quis tanta pericula solus? (Beifall.) Meine Herren!
Zur feierlichen Ehrung des verstorbenen großen Kanzlers haben Sie sich
erhoben. Ich konstatiere, daß der Reichstag sich dieser Ehrung angeschlossen
hat. (Lebhafter Beifall.) — Die Mitglieder des Reichstags haben sich meist
schon zum Beginn dieser Worte erhoben. Die Sozialdemokraten haben vor
Beginn der Rede den Saal verlassen.
12./15. Dezember. (Reichstag.) Erste Lesung des Etats.
Allgemeine wirtschaftliche Lage. Auswärtige Politik, Verhältnis
zu Österreich. Das Zentrum und das orientalische Protektorat.
Stellvertretungsfrage.
Schatzsekr. v. Thielmann sagt in seiner Einführungsrede über die
allgemeine wirtschaftliche Lage: Sie wissen alle, daß der neue Etat erhöhte
Anforderungen stellt, und die nächstliegende Frage ist deshalb: Ist unsere
wirtschaftliche Lage eine solche, daß wir diesen erhöhten Anforderungen
gerecht werden können? Meine Herren, Kriterien der wirtschaftlichen Lage