Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 12./15.) 183 
durch die Vorsehung zu einem Zeitpunkt abberufen worden, wo kein 
Reichstag versammelt war und selbst kein Reichstag existierte, welcher 
an der Bahre des großen Toten dem Schmerz und der Trauer hätte 
Ausdruck geben können, der die Vertreter des deutschen Volkes im 
Namen dieses Volkes beseelte. In sehr dankenswerter Weise hat zwar 
ein Mitglied des früheren Präsidiums des Reichstages, unser sehr ver- 
ehrter Kollege Herr Dr. Spahn, diesem Mangel abzuhelfen sich be- 
müht, und wir sind ihm dafür zu vielem Danke verpflichtet, jedoch kann 
dieser Umstand den neugewählten Reichstag nicht davon entbinden, noch 
vor Eintritt in seine geschäftliche Thätigkeit seinem Schmerze und seiner 
Trauer über den Verlust des großen Deutschen feierlich Ausdruck zu geben. 
Meine Herren! Wenn schon die Pietät für den großen Toten alle An- 
gehörigen des Deutschen Reiches anweist, das Andenken an seine unsterb- 
lichen Verdienste zu ehren und dieser Ehrung einen feierlichen Ausdruck zu 
geben, so tritt für uns Mitglieder des Reichstages noch ein Grund be- 
sonderer Dankbarkeit hinzu. M. H., wenn wir hier als Vertreter des 
deutschen Volkes tagen, so haben wir dies in erster Linie dem verewigten 
Kanzler zu verdanken. (Beifall rechts.) Es ist eine geschichtliche Thatsache, 
daß die Basis, auf welcher der Reichstag beruht, das Wahlgesetz, auf 
Grund dessen die Abgeordneten gewählt werden, lediglich dem maßgebenden 
Einfluß des ersten Kanzlers zu danken ist. M. H., Fürst Bismarck war 
ein großer, gewaltiger Staatsmann, der sich die höchsten Ziele zur Einigung 
und zum Wohle des Vaterlandes gesetzt hat. Daß er bei der Wahl der 
Mittel, um diese Ziele zu erreichen, sowohl mit Parteien, als auch mit 
Personen dieses hohen Hauses in scharfe Konflikte gekommen ist, wer könnte 
es leugnen? Jedoch, meine Herren, auch für diejenigen, welche dem großen 
Kanzler in diesen Konflikten scharf gegenüberstanden, liegt kein Grund vor, 
die feierliche Ehrung zu verweigern. (Beifall). Die Majestät des Todes ver- 
klärt alles. Was Parteien und Personen aus unserer Mitte an dem Fürsten 
Bismarck zu seinen Lebzeiten bekämpften, ist, soweit es persönlicher Natur 
war, mit seiner sterblichen Hülle begraben. Das Andenken des Fürsten 
Bismarck steht vor uns als das des großen Staatsmannes, des hervor- 
ragenden Mitbegründers des Reiches, des Vorbereiters und Ausnutzers der 
unsterblichen Siege unseres unvergleichlichen Heeres (Beifall) und nach diesen 
Siegen des Erhalters eines jahrzentelang dauernden, segensreichen Friedens. 
(Beifall.) So steht das Bild Ottos v. Bismarck vor unserer Seele, und 
unter dieses Bild könnte man die Worte des römischen Dichters setzen: 
Quis tot sustineat, quis tanta pericula solus? (Beifall.) Meine Herren! 
Zur feierlichen Ehrung des verstorbenen großen Kanzlers haben Sie sich 
erhoben. Ich konstatiere, daß der Reichstag sich dieser Ehrung angeschlossen 
hat. (Lebhafter Beifall.) — Die Mitglieder des Reichstags haben sich meist 
schon zum Beginn dieser Worte erhoben. Die Sozialdemokraten haben vor 
Beginn der Rede den Saal verlassen. 
12./15. Dezember. (Reichstag.) Erste Lesung des Etats. 
Allgemeine wirtschaftliche Lage. Auswärtige Politik, Verhältnis 
zu Österreich. Das Zentrum und das orientalische Protektorat. 
Stellvertretungsfrage. 
Schatzsekr. v. Thielmann sagt in seiner Einführungsrede über die 
allgemeine wirtschaftliche Lage: Sie wissen alle, daß der neue Etat erhöhte 
Anforderungen stellt, und die nächstliegende Frage ist deshalb: Ist unsere 
wirtschaftliche Lage eine solche, daß wir diesen erhöhten Anforderungen 
gerecht werden können? Meine Herren, Kriterien der wirtschaftlichen Lage
	        
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