184 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 12./15.)
sind in erster Linie die Verkehrsverhältnisse. Nun, gibt es irgend ein
Verkehrsgebiet, auf dem sich schon ein Rückgang bemerkbar machte? Ich
glaube nicht. Bei der Post, meine Herren, habe ich Ihnen soeben an der
Hand der Ziffern nachgewiesen, daß die Einnahmen steigen. Bei den
Eisenbahnen ist der Verkehr ein außerordentlich starker, und wenn ich ein
Bedauern aussprechen darf, so ist es lediglich das, daß in diesem Herbst
die Klagen über Wagenmangel nicht in der beliebten und gewohnten Weise
in der Zeitung wiederkehren; sie wären mir sehr erwünscht gewesen, denn
sie geben ein gutes Argument ab. Aber sie sind jetzt nicht in der Schärfe
hervorgetreten, wie in den früheren Jahren, einfach aus dem Grunde, weil
die Eisenbahnverwaltung mit Anspannung aller ihrer Kräfte für einen ver-
mehrten Wagenpark gesorgt hat. Daß aber der Verkehr auf den Eisen-
bahnen sowohl den ganzen Sommer, wie jetzt noch ein außerordentlich leb-
hafter war, können Sie aus allen Zusammenstellungen ersehen, die darüber
veröffentlicht worden sind. Nun kommt ein anderer Punkt, an dem wahr-
scheinlich von seiten dieses hohen Hauses oder doch seitens einzelner Mit-
glieder im Laufe der Session Kritik geübt werden wird, das ist der gegen-
wärtige hohe Diskont der Reichsbank. Die Bankgesetzvorlage wird Ihnen
ausgiebige Gelegenheit geben, Ihre Ansichten hierüber den Regierungen
entgegenzubringen, und die Ansichten der Regierungen zu diesem Punkte zu
hören. Ich möchte mich deshalb kurz fassen und nur betonen, daß der
augenblicklich hohe Diskont mir nicht als ein Anzeichen dafür erscheint,
daß wir uns weder in einer wirtschaftlichen Klemme befinden, noch einer
solchen entgegen gehen. Wenn Sie die Diskontsätze der Reichsbank durch
die letzten Jahre oder Jahrzehnte zurückverfolgen, so werden Sie unab-
änderlich sehen, daß gegen Ende des Jahres stets ein Ansteigen stattgefunden
hat, und nach Beginn des neuen Jahres, im Monat Februar namentlich,
ein starkes Abfallen. Also ein Ansteigen an sich ist noch nichts Bedenk-
liches, denn es ist in den natürlichen Verhältnissen gegeben. Bedenklich
erscheint jedoch, wenigstens nach den Aeußerungen der Presse verschiedener
Parteien, daß dieses Ansteigen zu bis einem Diskont von 6% geführt hat,
nachdem ein Diskont von 5% schon für einige Zeit vorhergegangen war.
Ich bitte aber diejenigen Herren, die aus diesem hohen Diskont auf eine
wirtschaftliche Klemme schließen möchten, die Ziffern der Summen zu ver-
gleichen, welche die Industrie in diesem Jahre vom Publikum beansprucht
hat. Sie finden, daß auf fast allen Gebieten der Industrie, am meisten selbst-
verständlich auf dem Gebiete der neuesten Industrie, der elektrischen, ganz erheb-
liche Neuschaffungen vorhergegangen sind, und diese Neuschaffungen haben
auf dem Geldmarkt selbstverständlich erhöhte Ansprüche hervorgerufen.
Wenn eine wirtschaftliche Klemme bevorstände, oder, wenn sie bereits ein-
getreten wäre, so träte mit Sicherheit ein verstärkter Andrang zu den
absolut sicheren Reichspapieren und Staatspapieren ein, und die Industrie-
papiere würden mehr vernachlässigt. Davon, meine Herren, ist in diesem
Augenblicke nicht das Geringste zu verspüren. Der Stand der preußischen
Konsols, wie der der Reichsanleihe, ist ein niedriger, und ein starker Begehr
nach diesen Papieren zeigt sich nicht. Der Stand der Industriepapiere ist
dagegen ein hoher; und trotz der weiteren Anforderungen, die an die Börse
und an den Geldbeutel des Publikums fast tagtäglich gestellt werden, hat
sich bis jetzt ein Nachlassen der Kurse noch nicht bemerkbar gemacht. Ich
kann also meinen weiteren Ausführungen als Unterlage die Ansicht unter-
stellen, daß wir uns gegenwärtig noch nicht auf dem absteigenden Ast be-
finden. Ich will mit niemand darüber streiten, ob wir noch im Aufsteigen
sind, oder ob wir etwa den Treppenabsatz schon erreicht haben — keines-
falls aber ist ein Heruntersteigen bis jetzt bemerkbar.