186 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 12./15.)
des Reichstags hängt mit der Reise seiner Majestät in keiner Weise
zusammen.
Staatssekretär des Auswärtigen v. Bülow: Die orientalische Frage
befindet sich zur Zeit im großen und ganzen in einer friedlichen Phase,
damit will ich nicht etwa sagen, das orientialische Problem sei schon end-
giltig gelöst. Die orientalische Frage gleicht etwa der Seeschlange, von
der ein Stück nach dem andern zum Vorschein kommt. Die endgültige Lösung
der orientalischen Frage wird wohl keiner von uns erleben. Es ist ja auch
nicht notwendig, daß alle großen Probleme von heute auf morgen gelöst
werden, wir müssen auch unsern Kindern und Kindeskindern einige Nüsse
zu knacken übrig lassen. (Heiterkeit.) Aber die orientalische Frage scheint
gegenwärtig für den Weltfrieden weniger bedrohlich, wie in früheren Epochen.
An sich ist die orientalische Frage vielleicht komplizierter, als sie vor 20
und 40 Jahren war. Die Gegensätze, nicht sowohl zwischen den Christen
und Mohamedanern, als zwischen den einzelnen Balkanvölkern, haben sich
seitdem zugespitzt. Mit dem Selbständigkeitstriebe dieser Völker ist auch
ihr Expansionsbedürfnis gestiegen. Dazu kommt, daß es auf der Balkan-
halbinsel Punkte gibt, die unter Umständen zu Erisäpfeln in des Wortes
verwegenster Bedeutung werden können. Wer mir sagen kann, wie sich
dort die Ansprüche der verschiedenen Nationalitäten und Konfessionen be-
friedigen lassen, den erkläre ich für einen sehr feinen Kopf. Das heißt in
der That die Quadratur des Zirkels und den Stein der Weisen finden.
Auf Fragen, deren Sitz in der Nähe von Konstantinopel und Kleinasien
liegt, und auf die armenische Frage will ich lieber gar nicht eingehen. Doch
brauchen wir nicht zu befürchten, daß alle diese Gegensätze, Probleme und
Fragen die Ruhe im Orient stören werden. Soweit menschliche Berechnung
reicht, dürfen wir hoffen, daß der Friede im Orient in der nächsten Zeit
nicht getrübt werden wird. Das kommt eben daher, daß mit dem Wachsen
und Fördern des Verkehrs unter den Völkern das allgemeine Friedens-
bedürfnis zugenommen hat, daß mit dem Umfange der Rüstungen auch die
Scheu wächst, einen Krieg zu entfesseln, der unter Umständen ein Volks-
krieg in des Wortes furchtbarster Bedeutung werden könnte. Ich kann aber
mit berechtigter Genugthuung sagen, daß sich überall die Einsicht verbreitet
hat, daß Deutschland, eben weil es im Orient keine direkten politischen
Interessen hat und wegen unserer unbezweifelten und unzweifelhaften Friedens-
liebe eine gewisse Garantie bietet für den schließlichen Ausgleich der Gegen-
sätze. Was unsere Verhältnisse zum türkischen Reich angeht, so streben wir
in Konstantinopel gar keinen besonderen Einfluß an. Mit dem Einfluß
auf fremde Staaten ist es so eine Sache, es geht dabei, wenn ich mir
einen Vergleich gestatten darf, ähnlich, wie bei dem Rennen um die goldene
Peitsche. Es läßt sich unter gewissen Verhältnissen unschwer ein Einfluß
auf ein anderes Staatswesen erlangen. Diesen Einfluß aber dauernd zu
behaupten, kann recht mühsam sein. Schon der Einfluß auf ein anderes
Menschenwesen schwächt sich im Laufe der Zeit ab, der Einfluß eines Staates
gegenüber einem andern ebenso; er darf jedenfalls nur in mäßiger und be-
sonnener Weise ausgeübt werden, und darum haben wir auch in Konstanti-
nopel diesen Einfluß in derselben Weise ausgeübt. In dieser unserer Ent-
haltsamkeit liegt auch die Sicherheit unserer Stellung am Goldenen Horn.
Die Sympathien, die wir in der Türkei genießen, gründen sich darauf, daß
die Türken wissen, daß Deutschland, weil es den Frieden will, auch für
die Erhaltung und Integrität des türkischen Reiches eintritt, daß wir
meinen, Völkerrecht muß Völkerrecht bleiben, auch gegenüber den Türken,
daß wir im Orient nicht den Krieg wollen, sondern den Frieden, daß
unsere wirtsaftlichen Tendenzen dort nicht der Ausbeutung, sondern der