Die Gesterreicisch-Angerische Monarchie. (März 23. 30.) 205
löschen konnte; der sicher hier begangene Verfassungsbruch müsse zugegeben
werden.
Hierauf verliest der Ministerpräsident Graf Thun folgende Pro-
grammrede:
„Durch die Gnade Sr. Majestät zum Ministerpräfidenten und Leiter
des Ministeriums ernannt, habe ich die Ehre, mich und meine Kollegen dem
Hause hiermit vorzustellen. Es sei mir gestattet, das hohe Haus über die
wichtigsten Zielpunkte zu orientieren, denen nachzustreben die Regierung
den festen Willen hat. Die Regierung betrachtet die Wiederherstellung ge-
ordneter parlamentarischer Zustände und des regelmäßigen Ganges der
Gesetzgebung als ihre erste und wichtigste politische Aufgabe, zumal im
gegenwärtigen Augenblicke, wo die im Interesse der Machtstellung des
Reiches und seiner wirtschaftlichen Festigung dringend gebotenen Verein-
barungen mit der anderen Reichshälfte der parlamentarischen Austragung
harren. Zur Lösung der Aufgabe appelliert die Regierung an alle, denen
das Ansehen des Reiches am Herzen liegt und die Bedeutung der parla-
mentarischen Formen teuer ist. Getreu den geschichtlichen Ueberlieferungen
der österreichischen Monarchie wird die Regierung bei der Führung der
öffentlichen Geschäfte als obersten Grundsatz, den der Gerechtigkeit gegenüber
allen Volksstämmen und Bewohnern dieses Staates walten lassen. Diesen
Grundsatz wird die Regierung, einstehend für Recht, Ordnung und Autorität,
bei der Entscheidung aller Fragen, die politische oder wirtschaftliche Inter-
essen oder Ansprüche betreffen, im verfassungsmäßigen Wege zur Anwendung
und Geltung bringen. Nützliche, soziale Reformen, Förderung kultureller
Fortschritte, Hebung der materiellen und sittlichen Verhältnisse der Be-
völkerung, namentlich der auf den Ertrag ihrer Arbeit angewiesenen
breiten Schichten derselben, Unterstützung der Industrie und Landwirtschaft,
liegen im Interesse der ganzen staatlichen Gemeinschaft und sollen daher
die wirksamste Förderung durch die Regierung erfahren. Wie die Regierung
ihre besten Kräfte zur Verwirklichung dieser Ziele einsetzen wird, so er-
wartet sie in Zuversicht, daß auf diesen Gebieten die Parteiunterschiede
zurücktreten und alle Kräfte sich zum gemeinsamen Handeln im Dienste der
wirtschaftlichen und damit der politischen Machtstellung des Staates ver-
einen werden. Vorbedingung für die Erfüllung dieser patriotischen Auf-
gabe ist die Milderung der nationalen Gegensätze, eine „Friedensaktion“,
für die gerade dieses Jahr am besten berufen wäre. Das hohe Haus möge
überzeugt sein, daß die Regierung, soweit es an ihr liegt, alles aufbieten
wird, um zu diesem erhabenen Ziele zu gelangen. Die Regierung wendet
sich im Namen Oesterreichs vertrauensvoll an alle Parteien des hohen
Hauses und hofft, daß sie, von patriotischem Geiste durchdrungen, die in
einem gefährlichen Rückstande befindliche, zum Wohle des Ganzen und
seiner Teile, unumgängliche Staatsarbeit zu leisten bereit sein werden.“
23. März. (Wien.) Das Abgeordnetenhaus wählt den
Südslaven Ferjancic und den Rumänen Lupul zu Vizepräsi-
denten.
30. März. (Wien.) Abgeordnetenhaus. Die deutsch-natio-
nale Partei bringt einen Antrag auf Anklageerhebung gegen Gautsch
wegen der Sprachenverordnungen ein. Da die übrigen deutschen
Parteien die Unterschrift ablehnen, kommt es zu heftigen Scenen
zwischen ihnen und den Deutsch-Nationalen.