Die Oesterreithisch·Augarishe Menarchie. (April 27.) 209
Graf Thun erklärt über die Sprachenfrage in der Beratung eines
Antrages auf Aufhebung der Sprachenverordnungen:
Die Regierung sei der eminent wichtigen Sprachenfrage nicht aus-
gewichen, sondern habe ihre diesbezügliche Stellungnahme auf die gegen-
wärtige Verhandlung, als beste Gelegenheit, aufgeschoben. Er werde
selbstverständlich auch andere Fragen der politischen, durch das scharfe Her-
vortreten des nationalen Momentes gekennzeichneten Situation berühren
müssen. Während die nationalen Parteien die Nationalität in den Vorder-
grund stellten, bildeten für die Regierung die nationalen Wünsche nur einen
Teil ihrer Aufgabe. Die Regierung müsse das Wohl des Ganzen sich vor
Augen halten und den geistigen wie wirtschaftlichen Bedürfnissen aller Länder
und Völker volle Fürsorge zuwenden. Bezüglich der sich durch die Ver-
schiedenartigkeit der nationalen Bestrebungen ergebenden Reibungsflächen
müsse neben der Pflege der eigenen Nationalität auf die Bedürfnisse auch
der Gesamtheit Rücksicht genommen werden. Die Regelung der sprachlichen
Verhältnisse der österreichischen Völkerfamilie bilde im gegenwärtigen Augen-
blick den Eckstein der nationalen Entwickelung. Während bisher, abgesehen
von dem Gerichtsverfahren und dem Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes,
kein Sprachengesetz bestanden habe und die Regierungen daran festgehalten
hätten, daß die Regelung der Sprachenfrage ein ausschließliches Recht der
Exekutive bilde, habe sich langsam eine Aenderung in der Auffassung ent-
wickelt. Der Minister-Präsident Baron Gautsch habe seinen Sprachenver-
ordnungen geradezu einen provisorischen Charakter bis zur gesetzlichen Regelung
gegeben. Er (Graf Thun) erkläre frei und offen, daß er bei dem Antritt
der Erbschaft der Verordnungen des Baron Gautsch dessen Absicht der gesetz-
lichen Regelung sich angeeignet habe. Diese im Hause vielseitig gewünschte
Regelung bilde die große Aufgabe, deren Gelingen die ernste und stetige
Mitarbeit aller Faktoren erfordre, damit sich der nationale Sturm lege und
für eine gesunde fortschrittliche Entwickelung Raum geschaffen werde. Die
Aufgabe sei der Arbeit der Besten wert, und wenn das Werk nicht auf
den ersten Wurf gelinge, könne das Ziel schrittweise erreicht werden. Die
Regierung begrüße daher die Einsetzung eines Sprachen-Ausschusses, indem
sie ihre ernsteste Mitarbeit zusichere. Thatsächlich habe man es nicht mit
einer Sprachenfrage, sondern mit einem ganzen Komplex von Sprachen-
fragen zu thun, die verschieden zu behandeln seien, je nach der geographischen
Begrenzung und der Verschiedenheit der Amtssphären. Somit würden ver-
schiedene Gesetze notwendig werden. Die Kompetenz der Reichs= und Landes-
gesetzgebung werde im Auge zu behalten sein und neben dieser auch ein,
wenngleich eingeschränktes, Verordnungsrecht. Auch mit der Statuierung
mindestens der Grundsätze für eine Reihe von das nationale Empfinden
lebhaft bewegenden Fragen werde man sich beschäftigen müssen, ebenso mit
der Regelung des Volksschulwesens nach der sprachlichen Seite. Schwere
Fragen seien nicht mit einfachen Formeln lösbar. Nur die feste Absicht,
zur Verständigung zu gelangen, vermöge die ersehnten Früchte zu zeitigen.
Diese Verständigung über die hauptsächlichsten Prinzipien müsse der Kodi-
fizierung vorangehen; denn es würde ein gewaltiger Irrtum sein, zu glauben,
daß die Sprachenfrage durch ein von der Majorität beschlossenes, dem starken
Widerstande der Minorität begegnendes Gesetz zu lösen sei. Die Regierung
wolle ein Gesetz, das besser sei als die Verordnung, weil es für lange Zeit
den berechtigten Bedürfnissen der Nationalitäten und des Staats zu ent-
sprechen habe. Der einzusetzende Ausschuß, gebildet aus Vertretern der
verschiedenen Parteien, solle den Versuch unternehmen, eine gesetzliche For-
mel für die Sprachenfrage zu finden. Die Regierung würde die Permanenz-
Europäischer Geschichtskalender. Bd. XXXIX. 14