Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

220 Bie Gesterreichisc-Angerische Monarchie. (Mitte Juni.) 
entwürfe habe die Majorität den Versuch unternommen, eine parlamenta- 
rische Beratung derselben einerseits zur Wahrung der verfassungsmäßigen 
Rechte des Parlaments, anderseits im Interesse der schwer geschädigten 
Volkswirtschaft zu veranlassen, jedoch, nachdem die Opposition in einer 
Klubmänner-Konferenz jeden Vorschlag der Majorität zurückgewiesen habe, 
nicht weiter in ihrer Haltung verharrt. Da die gegenwärtige mangelhafte 
Geschäftsordnung bedauerlicherweise eine Verhinderung der Beratung durch 
die Minorität nicht ausschließe und der Versuch einer derartigen Verhand- 
lung die im Hause bestehende Aufregung nur noch gesteigert hätte, so habe 
das Abgeordnetenhaus abermals die Arbeiten einstellen müssen, ohne auch 
nur im geringsten die Bedürfnisse der landwirtschaftlichen, gewerblichen, 
industriellen und Arbeiterbevölkerung befriedigt, ohne die Möglichkeit der 
Vornahme umfangreicher, beabsichtigter Investitionen eröffnet, ohne einer 
außerparlamentarischen Bewilligung der Steuern vorgebeugt zu haben. Der 
im Interesse der Monarchie dringend notwendige Ausgleich mit Ungarn, 
dessen günstige Erledigung die Entlastung der diesseitigen Reichshälfte zu 
bewirken berufen sei und zugleich den Landesfinanzen Hilfe zu bringen 
geeignet wäre, bleibe auch fernerhin unerledigt. Zur Wahl eines Sprachen- 
ausschusses sei es gar nicht gekommen, und nicht weniger als 51 Redner 
hätten beim Sessionsschluß auf der Rednerliste gestanden. Indem die 
Mojorität über diese Zustände, für welche sie nach der geschilderten Sach- 
lage jedwede Verantwortung gewissenhaft ablehnen könne, ihr tiefstes Be- 
dauern ausspreche, erkläre sie trotz der in diesem Sessionsabschnitte mit 
ihrem bis zur Abnegation geübten Entgegenkommen gemachten Erfahrungen 
und trotz der unausgesetzt erlittenen schweren Angriffe ihre Bereitwilligkeit, 
dem von der Regierung angestrebten Ziele der Wiederherstellung einer wirk- 
samen parlamentarischen Thätigkeit auch weiterhin jedes Opfer zu bringen, 
sofern dasselbe nicht zu ihrer Abdankung als Majorität und nicht zur 
Verzichtleistung auf ihre im Adreßentwurf vom Jahre 1897 niedergelegten 
Grundsätze führe. 
Die Linke veröffentlicht eine Mitteilung über die Beratung der 
Obmänner der vereinigten deutschen Parteien, bestehend aus der Fortschritts- 
partei, der Volkspartei, den verfassungstreuen Großgrundbesitzern, den 
Christlich-Sozialen und der freien Vereinigung. Danach haben die Klub- 
männer, da ihr gemeinsames Vorgehen wesentlich zur Befestigung der Stel- 
lung der Deutschen Oesterreichs beigetragen habe, an diesem taktischen Ver- 
bande auch für die Zukunft festzuhalten beschlossen. In wichtigen Fällen 
sollen auch während der Parlamentsvertagung die Beratungen fortgesetzt 
werden. Die Klubobmänner stellten fest, daß die deutschen Oppositions- 
parteien einmütig entschlossen sind, die verfassungsmäßigen Rechte gegen 
jeden wie immer gearteten Eingriff zu verteidigen, und daß sie beharren 
auf der Forderung auf Aufhebung der Sprachenverordnungen, in deren 
Erfüllung sie das einzige Mittel zu einer fruchtbringenden parlamentarischen 
Thätigkeit erblicken. 
Die einzelnen Oppositionsparteien veröffentlichen gleichfalls Kund- 
gebungen. 
Ein Manifest der deutschen Fortschrittspartei stellt fest, daß 
trotz gewisser Erfolge ein Ende des Kampfes unabsehbar sei. Die Partei 
sehe noch immer den Widerwillen der Gegner gegen jede gerechte Ueber- 
einkunft und vermisse bei der Regierung die nötige Entschlossenheit. Die 
Hauptforderung der Deutschen und die erste Bedingung des von ihr heiß- 
ersehnten Friedens und geordneter staatlicher Verhältnisse sei die Aufhebung 
der Sprachenverordnungen. Nach dem Verhalten der Regierung in der 
letzten Zeit, nach den Grazer Ereignissen und nach den Sprachenerlassen
	        
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