Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

284 Eraukreich. (Okltober 26.) 
Salisbury erwiderte, er würde hierüber nachdenken, müsse sich aber auf 
alle Fälle mit seinen Ministerkollegen ins Einvernehmen setzen. 
Oktober. Beziehungen zu England. 
Der „Temps“ schreibt über die Rede des englischen Schatzkanzlers: 
Es wäre kindisch, die ernste Bedeutung der Rede zu leugnen. Wenn die 
englische Regierung sich den Anschein giebt, als ob sie die Brücke hinter 
sich verbrennen würde, muß sie wissen, daß ihre Haltung auf die öffent- 
liche Meinung in Frankreich eine Rückwirkung ausüben und die ohnehin 
schwierige Aufgabe der Diplomatie immer schwieriger gestalten wird. (20.Okt.) 
Die Presse betrachtet die Beziehungen zu England als gespannt und 
berichtet über außerordentliche maritime Rüstungen in Toulon und Brest. 
Dagegen erklärt die „Agence Havas“, die beunruhigenden Gerüchte, welche 
über die Beziehungen zwischen Frankreich und England verbreitet werden, 
für völlig unbegründet. Ebenso sei es durchaus unrichtig, daß in irgend 
einem französischen Kriegshafen außerordentliche Maßregeln getroffen worden 
seien. (23. Okt.) 
25. Oktober. Zusammentritt der Kammern. Rücktritt Cha- 
noines. Sturz des Ministeriums. Stürmische Sitzung. 
Kammerpräsident Deschanel verliest die eingegangenen Interpel-- 
lationen. Ministerpräsident Brisson besteigt die Tribüne. (Rufe auf der 
Rechten: „Demission“"; Gegenrufe auf der Linken.) Brisson erinnert daran, 
daß er die Affäre Dreyfus beim Kassationshofe anhängig gemacht hatte. 
(Heftige Protestrufe; Tumult.) Brisson richtet an die Kammer die Bitte, 
die die Dreyfus-Affäre betreffenden Interpellationen von den anderen zu 
trennen. (Vereinzelte Bravorufe.) Hierauf besteigt Déroulèede die Redner- 
tribüne und erklärt, die Majorität habe das Kabinett Brisson unterstützt, 
weil Cavaignac dazu gehörte. (Protestrufe auf der Linken.) Die Depu- 
tierten Basli und Paulin-Méry werden handgemein. Alle Deputierten er- 
heben sich von ihren Sitzen und protestieren heftig gegen das Benehmen 
der beiden Kollegen. Sobald die Ruhe wiederhergestellt ist, nimmt Dé- 
roulede wieder das Wort und wirft der Regierung vor, die Macht ufur- 
piert zu haben, und deutet auf die Lage hin, in der sich General Chanoine 
befinde. (Heftige Protestrufe.) Kriegsminister Chanoine bittet ums Wort 
(lang anhaltender Beifall); er erinnert daran, unter welchen Bedingungen 
er sein Amt angetreten habe, und erklärt, daß seine Ansicht sich mit der 
seiner Vorgänger decke (langanhaltender Beifall). „Als Hüter der Ehre 
der Armee lege ich in Ihre Hände das Gut, das mir anvertraut ist, und 
ich gebe auf dieser Tribüne meine Demission.“ (Donnernder Beffall.) 
Chanoine verläßt den Saal. Brisson besteigt die Tribüne. (Erneute Rufe: 
„Demission“ und Gegenrufe: „Nein! Nein!“) Brisson führt aus, der Be- 
schluß betreffend die Ueberweisung der Affäre Dreyfus an den Kassations- 
hof sei in Gegenwart Chanoines gefaßt worden; Redner tadelt Chanoine, 
daß er entgegen jedem Gebrauche inmitten der Kammer demissioniert habe. 
(Lang anhaltender Beifall, heftige Unterbrechungen auf der Rechten.) Brisson 
fügt hinzu, die Regierung wolle sich zu Beratungen zurückziehen. Die 
Kammer werde ihm Dank wissen, daß er dafür sorge, daß die Autorität 
der Civilgewalt gegenüber der Autorität der Militärgewalt das Uebergewicht 
habe. Die Sitzung wird unterbrochen. 
Nach dem vorläufigen Schluß der Kammersitzung begeben Minister- 
präsident Brisson und Justizminister Sarrien sich nach dem Elysée, um 
en rästbenten der Republik von der Demission Chanoines Mitteilung zu 
machen. 
 
	        
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