Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

298 Stalien. (September.) 
und Ruhe die Neubildung aller der Politik fernbleibenden Vereine zu ge- 
statten, namentlich derjenigen mit wohlthätigen und Unterstützungszwecken. 
Die italienische Regierung hat nicht nötig, zu erklären, daß der heilige 
Stuhl weder der „notwendigen Unabhängigkeit“ noch der „vollen Freiheit" 
ermangelt. Die Regierungen aller Nationen sind davon unterrichtet und 
als Zeugen können ihre Vertreter in Rom dienen, die sicherlich zu allererst 
sich über die vermeintliche „Unterdrückung des Papsttums“ gewundert haben. 
Einen neuen Beweis für die volle und ganze Freiheit des Papstes liefert 
übrigens das hier berührte Rundschreiben selber. Der Papst verlangt mit 
vollem Rechte, daß die italienischen Katholiken „der Kirche und ihrem 
Oberhaupte ergeben“ seien; aber weit entfernt, sie auch zur Ergebenheit 
gegen ihren König und ihr Vaterland aufzufordern, erklärt er trotz den 
„schmerzlichen Vorfällen, die ihm im Innersten weh gethan haben“, daß 
die Katholiken „den gegenwärtigen Stand der Dinge über sich ergehen 
lassen", aber „nicht im stande sein werden, ihn anzuerkennen, zu stützen 
und zu fördern, ohne ihre heiligsten Pflichten zu verletzen“. Einen 
stärkeren Beweis für die unbeschränkte Freiheit des Papstes, heißt es zum 
Schluß, dürfte es nicht geben. Jedwede Auslegung ist überflüssig, denn 
Ew. Exzellenz wissen zu gut, daß keine andere gesittete Regierung dulden 
würde, daß die kirchlichen Oberen einen derartigen Druck ausübten, um 
den Staatsbürgern die Erfüllung ihrer Pflichten gegen das Staatsoberhaupt 
und das Vaterland zu verwehren. 
September. Die italienische Regierung richtet an die diplo- 
matischen Vertreter Italiens bei den Mächten eine Note, um eine 
internationale Konferenz zur Bekämpfung der Anarchisten herbei- 
zuführen. 
Die Note, die am 6. Oktober veröffentlicht wird, lautet: Die Re- 
gierungen finden sich seit mehreren Jahren bei der Ausführung der ihnen 
obliegenden Aufgabe, für die Sicherheit des Staates und der Bürger zu 
sorgen, einer Thatsache gegenüber, deren Ernst ein ganz besonderer ist und 
die ihre Aufmerksamkeit und Sorge in höchstem Grade in Anspruch nimmt. 
In allen Ländern machen die Behörden aufmerksam auf das Vorhandensein 
einer mehr oder weniger zahlreichen Klasse von Menschen mit entarteten 
Grundsätzen, deren Bestrebungen und deren Verbrechen, wie offen zugegeben 
wird, nur das Ziel haben, die Grundlagen, auf denen die gegenwärtige 
Gesellschaftsordnung ruht, zu untergraben und diese Ordnung vollständig 
umzustürzen. Diese überspannten Menschen, die vor keinem Attentat, und 
sei es noch so scheußlich und wahnwitzig, zurückschrecken, sprechen öffentlich 
Prinzipien aus, die sie selbst anarchistische Prinzipien nennen, und die fie 
auf ihren Wanderungen durch ganz Europa verbreiten. Sie werden bei 
dieser Propaganda von einer geheimen Presse unterstützt, welche unaufhörlich 
zu jeder Gewaltthat auffordert, und welche die abscheulichsten Verbrechen 
rühmt und preist als die wirksamsten Mittel, den der ganzen Gesellschaft 
erklärten Krieg bis zum Aeußersten fortzuführen. Die Regierungen haben 
sich bisher bemüht, durch genaue Anwendung der bestehenden Gesetze und 
in einigen Fällen durch Ausnahmemaßregeln der Verbreitung dieser ver- 
brecherischen Theorien so viel als möglich Einhalt zu thun. Es hat sich 
indessen gezeigt, daß diese Bemühungen, da sie nur vereinzelt geblieben, 
nicht wirksam genug gewesen sind, das Uebel zu bezwingen und Herr der 
Schliche zu werden, mit denen die Anarchisten aller Länder sich zu ver- 
ständigen, sich beizustehen und sich zu organisieren suchen, was ihnen zu- 
weilen auch gelingt. Es scheint sich demnach für die Regierungen, welche
	        
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