Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

318 Rubland. (Februar 9.) 
regten keine Forderung mehr an wegen einer Vereinigung mit Griechenland. 
und nahmen mit Freude die ihnen geschenkte Autonomie an. Endlich, Dank 
dem mächtigen Eintreten des Kaisers Nikolaus, wurden die Kriegsaktionen 
zwischen der Türkei und Griechenland eingestellt, die Bevollmächtigten der 
hellenischen Regierung begaben sich nach Konstantinopel behufs gemeinsamer 
Beatung mit der türkischen Delegation wegen der Bedingungen des Friedens. 
welcher gegenwärtig glücklich abgeschlossen ist. Während die europäischen 
Repräsentanten in Konstantinopel beschäftigt waren mit der Ausarbeitung 
der Grundlagen für die autonome Verwaltung der Insel Kreta, welche 
von allen Mächten unter ihren Schutz genommen wurde, da die Anwendung 
autonomer Grundlagen in der Praxis vor allem die Einführung einer 
soliden Regierungsgewalt auf der Insel erforderte, alle in Bezug auf diesen 
Gegenstand gemachten Vorschläge der Mächte indessen zu gänzlichem Miß- 
lingen führten, erachtete Rußland es für möglich, unter den erwähnten 
Verhältnissen die Kandidatur des Prinzen Georg von Griechenlaud auf die 
Tagesordnung zu stellen, dessen Ernennung zum General-Gouverneur von 
Kreta, indem es die gesetzlichen Wünsche der christlichen Bevölkerung der 
Insel völlig befriedigte, zugleich ein Unterpfand für die Beruhigung des 
gesamten hellenischen Volkes bildete, welches mit Erregung auf die Un- 
gewißheit des künftigen Geschickes seiner Stammesgenossen blickt. Die von 
Frankreich, England und Italien mit Sympathie aufgenommene Kandidatur 
des Prinzen Georg begegnete jedoch einem Widerstande, wie seitens Deutsch- 
lands und Oesterreichs, so auch seitens des Sultans, welcher wie früher 
auf der Ernennung eines seiner Unterthanen zum General-Gouverneur von 
Kreta bestand. Auf die von Sultan in diesem Sinne gestellten Anträge 
antwortete unsere Regierung unverändert, daß keine Großmacht zur Kan- 
didatur eines türkischen Unterthans ihre Einwilligung geben werde und 
daß angesichts des von allen ausländischen Regierungen angenommenen 
einmütigen Beschlusses, die Vermehrung der ottomanischen Truppen auf 
der Insel nicht zu gestatten, der Sultan jeder Mittel zur Einsetzung 
eines türkischen Generalgouverneurs auf Kreta beraubt sein würde. Bei 
seinem Antrage, den Prinzen Georg für diesen Posten zu ernennen, hatte 
Rußland im Auge, die Unversehrtheit des ottomanischen Reiches sicherzu- 
stellen, da seitens des Prinzen vorher die Einwilligung erfolgte, die Sou- 
veränetätsrechte des Sultans anzuerkennen und Frieden im Orient zu be- 
wahren, wozu es notwendig war, an die Spitze der Verwaltung Kretas 
eine Person zu stellen, welche dort völlige Ruhe einführen und mit der 
nötigen Autorität die Gewalt des Generalgouverneurs aufrechterhalten 
könnte, indem er sowohl die christliche wie die muselmanische Bevölkerung 
der Insel schützt. Solches sind die einzigen Ziele der von Rußland un- 
eigennützig vorgeschlagenen Lösung der kretischen Frage, welche ein für alle 
Mal den Mächten jeden Vorwand nimmt zur Einmischung, welche durch 
periodisch entstehende blutige Ereignisse auf der Insel hervorgerufen wird. 
Nachdem Rußland sowohl dem Sultan wie auch den Großmächten offen 
seine Anschauung hinsichtlich des gegenwärtigen Standes der kretischen 
Frage ausgesprochen hat, besteht es durchaus nicht auf der von ihm vor- 
geschlagenen Lösung; wenn irgend eine europäische Macht einen anderen 
Ausgang aus den Schwierigkeiten ermitteln würde, welcher, die Forderungen 
des Sultans und der Mächte wie auch die Wünsche der Kreter befriedigend, 
hernach als Beweis für die definitive Lösung der kretischen Frage dienen 
könnte, so würde die russische Regierung natürlich nicht unterlassen, ihre 
Einwilligung hiezu zu geben. Aber eine so sehr komplizierte Aufgabe er- 
scheint uns schwer ausführbar, und daher erachtete Rußland es nicht für 
möglich, die Initiative zu irgend welchen neuen Vorschlägen auf sich zu
	        
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