Rußland. (Mai 11.) 323
Die „Preuß. Jahrbücher" (Bd. 92) veröffentlichen eine Unterredung
mit dem Fürsten Uchtomski, dem Herausgeber der „Petersburger Wiedo-
mosti“, der als treibende Kraft der ostasiatischen Politik Rußlands gilt.
Fürst Uchtomski erklärt (nach der „Tägl. Rdschau"), er befinde sich in.
Bezug auf die ostasiatische Politik augenblicklich im Gegensatz zum russischen
Auswärtigen Amte; die Besitzergreifung von Port Arthur und Talienwan
mißbillige er als übereilte Folge der übereilten Besetzung Kiautschous.
Deutschland habe sich vor seinem Vorgehen an Rußland gewandt und von
dort die Antwort erhalten, die Besetzung entspräche nicht den Wünschen
Rußlands. Als sie dennoch vollzogen wurde, „waren wir nicht angenehm
berührt, blieben aber höfliche Leute“. Noch mehr habe aber in Rußland
ein offenbar offiziöser Artikel der „Köln. Ztg.“ verstimmt, der die eng-
lische Besetzung von Wei-Hai-Wei als Gegengewicht gegen Rußlands
Stellung billigte. Die Gründe gegen die Erwerbung Kiautschous faßt
Fürst Uchtomski folgendermaßen zusammen: Schantung gehöre naturgemäß
wegen seiner nördlichen Lage in den russischen Interessenkreis; Deutschland
hätte besser südlich, etwa auf Formosa sich festgesetzt. Ueberhaupt sei aber
jede Beschlagnahme chinesischen Gebietes, durch welche Macht auch immer,
ein großer politischer Fehler. Es liege im Interesse Europas, alles zu
verhindern, was innere Wirren und die Vertreibung der herrschenden
Dynastie in China hervorrufen könne. Geschehe die Vertreibung, so würde
das Riesenreich in Stücke zerfallen, und damit eine derartig fanatisch-
nationale Reaktion eintreten, daß eine Erschließung und Nutzbarmachung
der Reichtümer Chinas für die europäischen Staaten auf absehbare Zeit
hinaus unmöglich werde. Die Festsetzung fremder Mächte auf chinesischem
Boden diene aber dazu, die Bevölkerung gegen die Dynastie, die ohnedies
nur ein Schattendasein führe, aufs höchste und fortdauernd zu erbittern.
Man unterschätze in den europäischen Kabinetten die Unsumme von Haß,
die sich gerade in den höheren, einflußreichen Kreisen Chinas gegen die
Fremden angehäuft habe und die durch Besitzergreifung chinesischen Bodens
sich fort und fort steigere. Für das, was Deutschland von China brauche,
sei eine andere Politik einzuhalten, als die der Panzerschiffe und See-
befestigungen; für solche Politik sei Deutschland viel zu weit von China
entfernt und seine Flotte, trotz Vergrößerung, zu klein. Deutschlands Zu-
kunft in China liege in seinem Zusammengehen mit Rußland gegen Eng-
land und Japan. Zwischen diesen beiden Mächten bestehe, seiner Ueber-
zeugung nach, ein Bündnisvertrag. „England ist und beibt Ihr Feind
und unser Feind. Wegen Ihrer großen Exportindustrie brauchen Sie
Absatzmärkte. Die können Sie nur gegen den Willen Englands erlangen.
Ein Angriff von uns auf Indien zertrümmert England; die Freundschaft,
die Sie uns dabei erweisen, gibt Ihnen dann die Möglichkeit, zu nehmen,
was Sie brauchen.“ Auch auf Frankreich rechnet Fürst Uchtomski bei
diesem antienglischen Bündnis bestimmt. — Vom fernsten Osten ging dann
Fürst Uchtomski zu Kleinasien und zur Balkanhalbinsel über. Die Balkan-
halbinsel gehöre naturgemäß zum Abendland. Der Sultan könne bleiben,
müsse aber ein kleiner Emir werden; ob von Rußland oder einer anderen
Macht abhängig, sei dann gleichgültig. Breche Oesterreich zusammen, so
möge Deutschland Cisleithanien nehmen, Rußland Galizien. Gegen deutsche
Kapitalanlage in Kleinasien (Bahnbau u. s. w.) habe Rußland nichts,
wohl aber gegen deutsche Einwanderung: „Wenn Sie Ackerbaukolonien
brauchen, so denken Sie doch an Südamerika.“
11. Mai. Mitteilung über das Verhältnis zu Korea. Ver-
trag mit Japan über Korea.
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