Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Oster- 
reich- 
Ungarn. 
390 Mebersicht der politischen Entwicheluns des Johres 1898. 
die Landwirtschaft war das abgelaufene Jahr besser als die vor- 
hergegangenen. Die Ernte war gut, und wenn auch die Getreide- 
preise den Wünschen der Produzenten nicht entsprechen, so sind 
doch die Preise für das Vieh beträchtlich gestiegen. 
In Österreich beherrscht der nationale Kampf der mit der 
Regierung verbündeten Slaven und Klerikalen gegen die Deutschen 
nach wie vor die politische Situation. Der Nachfolger Badenis 
Frhr. v. Gautsch suchte die Deutschen durch Aufhebung der Badeni'- 
schen Sprachenverordnungen zu gewinnen, aber der Erlaß, den er 
an die Stelle setzte, befriedigte weder die Deutschen noch die 
Tschechen, da keine Partei mit der sprachlichen Dreiteilung der 
böhmischen Länder einverstanden war. Gautsch nahm infolge- 
dessen seinen Abschied und wurde durch den Grafen Thun ersetzt. 
Sobald dieser das seit Badenis Rücktritt vertagte Parlament 
wieder einberief, zeigte sich, daß die Deutschen nicht von der Ob- 
struktion ablassen wollten, solange die Sprachenverordnungen nicht 
aufgehoben seien; durch eine Ministeranklage nach der anderen 
hinderten sie das Haus an jeder parlamentarischen Arbeit: nach 
einem Vierteljahr mußte der Reichsrat unverrichteter Dinge nach 
Hause geschickt werden. Wie im Vorjahre wollten die Deutschen 
auch jetzt die Erledigung des Ausgleichs mit Ungarn verhindern, 
ehe ihnen nicht Genugthuung in der Sprachenfrage gegeben 
sei. Graf Thun suchte diese Gefahr dadurch zu beschwören, daß 
er mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Baron Bauffy die 
Verabredung traf, im Herbst noch einmal den Versuch, den Aus- 
gleich parlamentarisch zu erledigen, machen zu wollen; scheitere 
auch dieser wieder an der Obstruktion, so solle das Parlament als 
aktionsunfähig angesehen und der Ausgleich in Österreich auf 
Grund des in der Verfassung vorgesehenen Verordnungsrechts 
(§ 14), in Ungarn, wo eine solche Klausel nicht existiert, durch 
Reichstagsbeschluß auf Grund des selbständigen Verfügungsrechts 
in Kraft gesetzt werden. Die Deutschen vereitelten diesen Plan 
dadurch, daß sie nach dem Wiederzusammentritt des Reichsrats die 
Obstruktion fallen ließen und in die parlamentarische Behandlung 
des Ausgleichs eintraten. Hierdurch verlor Thun den Vorwand, 
den § 14 anzuwenden. Während also in Österreich das parla-
	        
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