Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 7.) 33 
Der Gesetzentwurf soll die Disziplinarverhältnisse der Dozenten in 
Preußen einheitlich regeln. Er bestimmt, daß in erster Instanz die Fakul- 
täten die Disziplin über die Privatdozenten ausüben und ihnen die venia 
legendi entziehen können. Die zweite Instanz bildet das Staatsministerium, 
das verpflichtet ist, ein Gutachten des Disziplinarhofes für nicht-richterliche 
Beamte einzuholen und in der Strenge des Urteils über dieses Gutachten 
nicht hinausgehen darf. 
Kultusminister Bosse: Die Vorlage war schon am Ende der vori- 
gen Session des Landtages fix und fertig; es war auch bereits die Aller- 
höchste Ermächtigung zur Einbringung gegeben worden, da kam der Schluß 
der Session und das Staatsministerium entschloß sich, die Vorlage nicht 
mehr einzubringen, weil voraussichtlich eine endgiltige Erledigung derselben 
nicht mehr möglich gewesen wäre. Seit dem Bekanntwerden der Vorlage 
hat sich eine lebhafte öffentliche Erörterung an dieselbe geknüpft, so daß ich 
genötigt bin, Ihre Aufmerksamkeit für einige Bemerkungen zu erbitten, um 
die Gesichtspunkte zu erörtern, von denen die Regierung ausgegangen ist. 
Im Vordergrunde steht wie bei jeder Gesetzgebung die Bedürfnisfrage. 
Die Disziplinarverhältnisse unserer Universitätslehrer sind so geordnet, daß 
die Professoren dem allgemeinen Disziplinarrecht der Beamten unterworfen 
sind. Anders liegt die Sache bei den Privatdozenten, deren Disziplinar- 
verhältnisse überhaupt nicht gesetzlich geordnet sind, sondern nur in statu- 
tarischen Bestimmungen. An einigen Universitäten ist die Materie nicht 
einmal durch Statuten geregelt, bei den meisten Universitäten nicht durch 
die Universitäts-, sondern durch die Fakultätsstatuten. Im Vordergrunde 
steht die Frage, in welchen Fällen ist ein Disziplinarvergehen anzunehmen. 
Ich sehe von den einfachen Ordnungsstrafen, von dem Verweise und der 
Verwarnung ab, trotzdem auch diese sehr wichtig sind; sie treten weit zurück 
gegenüber der Hauptfrage, der Entziehung der venia legendi, die in den 
Statuten in völlig ungeeigneter Weise geregelt wird. In Greifswald ist 
alles dem freien Ermessen der Behörde überlassen. Am besten steht die 
Sache noch in Berlin, Bonn und Breslau, wo bei gröberen Verstößen und 
Anstößigkeiten eingeschritten werden kann; aber es ist immer noch der 
Willkür Thür und Thor geöffnet. Und wer ist denn die Disziplinar- 
behörde, die zuständig ist zur Entfernung eines Privatdozenten? Die Unter- 
richtsbehörden müssen wissen, ob sie zuständig sind oder nicht. Aber hier 
herrscht dasselbe ungewisse und unklare Bild; bei einigen Universitäten 
ist das Recht der Removierung der Fakultät vorbehalten, bei anderen ist 
der Antrag an den Minister zugestanden; andere Universitäten beschließen 
selbständig, aber vorbehaltlich eines Rekurses an den Minister. Die Ver- 
hältnisse sind ganz verschieden geordnet in den verschiedenen Fakultäten der- 
selben Univerfsität. Die medizinische Fakultät in Breslau kann allein vor- 
gehen, die anderen müssen dem Minister Anzeige machen. Wie steht es 
aber mit der Befugniß des Ministers, ohne Antrag der Fakultät einzu- 
schreiten: Nur bei einer Universität ist diese Befugnis anerkannt. Daraus 
hat sich die Kontroverse ergeben, ob der Minister nicht kraft seiner Auf- 
sichtsbefugnis einschreiten kann. Die sämtlichen Minister haben bisher diese 
Frage bejaht, und ich bejahe sie auch. Dieser Rechtszustand beweist das 
Bedürfnis nach einer anderweiten Regelung dieser Frage. Die Privat- 
dozenten sind weder Beamte, noch Professoren, aber sie stehen in einer be- 
amtenähnlichen Stellung, die mit der der Professoren die meiste Analogie 
hat. Sie sind nicht fest angestellt, sie sind nicht beeidigt, aber sie teilen 
mit den Professoren den Hauptberuf, unter staatlicher Autorität und unter 
staatlichem Schutze, darauf lege ich den Nachdruck, eine öffentliche Lehr- 
thätigkeit auszuüben, in staatlichen Räumen, unter Benutzung staatlicher 
Europäischer Geschichtskalender. Bd. XXXIX. 3
	        
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