Object: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 23./26.) 81 
der Kommissionsberatung gegenüber an den ursprünglichen Bedenken, 
namentlich den etatsrechtlichen, fest. Wenngleich die Mehrheit den Gründen 
der Minderheit die volle Würdigung nicht versagte, so hielt sie dieselben 
doch nicht für schwerwiegend genug, um die Ablehnung zu rechtfertigen und 
die Verantwortung für das Scheitern des für die Entwickelung Deutsch- 
lands bedeutsamen Gesetzes zu übernehmen. Die Mehrheit meiner politischen 
Freunde wird demnach für die Vorlage stimmen. Abg. v. Levetzow (kons.) 
begrüßt die Vorlage mit Freuden, da sie ein festes Ziel stecke und somit 
die Entwickelung der Marine sichere. Abg. Schönlank (Soz.): Es handelt 
sich nur um eine Episode zu einer bereits getroffenen Entscheidung. Es ist 
bezeichnend, daß der Berichterstatter nur bei den Nationalliberalen Beifall 
gefunden hat; dieser Beifall war ebenso wohlverdient wie der Name der 
Nationalliberalen, die als Fraktion Drehscheibe bezeichnet wird. Wir stehen 
nicht am Schlusse, sondern am Anfange einer neuen Aera, wobei das dicke 
Ende nachkommt. Herr Lieber hat heute die ganze Politik des Zentrums 
desavouiert. Herr Lieber, der sich im vorigen Jahre selbst als blamierter 
Europäer bezeichnet hat, billigt heute das, was er damals bekämpft hat; 
er gibt das Budgetrecht des Reichstags einfach auf. Wenn Herr Lieber 
im stillen Kämmerlein allein sein wird, so wird er sich vielleicht fragen: 
warum haben wir denn die Flottenvorlage bewilligt? Und die Antwort 
wird lauten: pour travailler pour le roi de Prusse! (Große Heiterkeit.) 
Die Fahrt nach China war eine Marinepromenade mit Hindernissen. Der 
Prinz hat nicht mit eiserner Faust dreingeschlagen, sondern sich bloß auf 
Ceylon als ein geschickter Radfahrer erwiesen (Große Heiterkeit) und sich 
einen Lorbeerkranz auf die Stirn gedrückt. Eine Havarie nach der anderen 
hat das Schiff erlitten und liegt nun wieder in Hongkong, um repariert 
zu werden. (Große Heiterkeit. Zuruf: Deshalb brauchen wir neue Schiffe!) 
Wenn Sie die Seereise des Prinzen humoristisch auffassen . .. (Heiterkeit. 
Widerspruch.) Ihre Heiterkeit beweist, daß Sie keine Gründe haben. 
(Große Heiterkeit.) Fürst Bismarck hat erst neulich sich dahin ausgesprochen, 
daß die Kiautschou-Affaire ein Strick sei, gelegt um den Hals des Reichs- 
tags zur Befriedigung der Flottenvorlage, und das Reich werde sich dabei 
wohl in die Nesseln setzen. (Widerspruch rechts.) Die Abrechnung über 
§ 1 wird ja bei den Wahlen kommen. 
Abg. Frhr. v. Hertling (Z.) verteidigt die Politik des Zentrums 
gegen die Angriffe des Vorredners und empfiehlt die Vorlage. Abg. Galler 
(Südd. Vp.): Das Schwergewicht der deutschen Macht müsse auf dem Lande, 
nicht auf der See gesucht werden. Der militärische Wert der Flotte sei 
gering; zu Anfang des Jahrhunderts herrschte England auf dem Meere, 
aber Napoleon herrschte auf dem Lande; gefährlich wurde England für ihn 
erst, als es anfing, Landarmeen in Spanien etc. auszuschiffen. Was hat 
die Flotte im Krimkriege genützt? Was hat sie 1866 und 1870 zu be- 
deuten gehabt? Wir glauben auch nicht, daß in dem Rahmen der gegen- 
wärtigen Vorlage die Flotte abgeschlossen sein wird, wir erblicken darin 
nur den Anfang zu der heiß ersehnten Weltflotte. Die Vorlage beschränke 
ferner die Rechte des Reichstages und sei schon deshalb unannehmbar. 
Abg. Rickert (fr. Vg.) weist dem Vorredner gegenüber auf den Schaden 
hin, den die französische Flotte 1870 dem Handel gethan habe. Die Ver- 
stärkung der Flotte sei im Interesse des Handels dringend notwendig, und 
die Kosten der Vorlage würden sich ohne neue Steuern decken lassen. Abg. 
Fürst Radziwill (Pole): Die Stellungnahme der Polen zu der Vorlage 
ist eine ablehnende. Wir verwahren uns aber dagegen, daß diese Ablehnung 
ein Mißachten der großen nationalen Gesichtspunkte, welche die Mehrheit 
des Hauses dabei bewegen, involviere. Wir müssen die Verantwortung 
Europäischer Geschichtskalender. Bd XXXIX. 6
	        
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