332 Mebersicht der velitischen Entwickeluns des Jahres 1899.
trieben wird, um in Ostafien die erste Rolle spielen zu können.
Diese Expansion in Asien hat eine Beschränkung in Europa zur
Voraussetzung, und so ist denn auch die russische Politik auf der
Balkanhalbinsel so defensiv wie nur je: Rußland sucht dort un-
bedingt die Ruhe zu erhalten und hat viel dazu beigetragen, einen
zu Beginn des Jahres in Macedonien drohenden Aufstand hintan-
zuhalten. Die Steigerung des deutschen Einflusses in der Türkei
durch die Konzedierung der anatolischen Bahn betrachtete die
öffentliche Meinung zwar mit Mißtrauen, aber die Regierung ließ
keine Protest- oder Mißfallensäußerung vernehmen.
Innere Die vorsichtige äußere Politik wurde ebensowohl durch die
*• Friedensliebe des Zaren wie durch die schlimmen Zustände im
Innern bedingt. Die Zahl der Notleidenden ist durch mehrere
Mißernten gestiegen, so daß agrarische Reformen im großen Stil
unerläßlich scheinen, wenn die Ackerbau treibende Bevölkerung und
die ganze wirtschaftliche Produktion nicht starke Einbußen erleiden
soll (S. 271). Zu dieser Schwierigkeit kommt eine wachsende
Gährung unter den Arbeitermassen, die anfangen sich nach west-
europäischem Muster zu organisieren und sozialistischen Ideen zu-
zuneigen. Die polizeilichen Maßregeln der russischen Regierung
haben bisher ihre Wirkung dagegen verfehlt (vgl. Mitteilung. des
evangelisch-sozialen Kongresses 1900). — Der nivellierende gewalt-
thätige Charakter der russischen Autokratie hat sich auch unter dem
neuen Herrscher nicht geändert. Wie Alexander der III. die Rufsi-
fizierung der Ostseeprovinzen durchgeführt hat, so hat Nikolaus der II.
Finland. begonnen, Finland seiner Selbständigkeit in Gesetzgebung, Finanz-
und Heerwesen zu berauben und russische Sprache und Verwaltungs-
praxis dort einzuführen. Da Finland eine kompaktere und zahl-
reichere Bevölkerung besitzt als die deutschen Ostseeprovinzen, so
wird der Russifizierungsprozeß nur langsam vor sich gehen, aber
der endgültige Ausgang scheint bei der ungeheueren Übermacht
Rußlands nicht zweifelhaft, sofern nicht internationale Verwick-
lungen die russische Kraft lahm legen.
Türkei. Auf der Balkanhalbinsel gab es im Gebiete der Türkei
einige Unruhen, die durch Ausschreitungen der Albanesen gegen
christliche Völkerschaften und durch Grenzverletzungen gegen Serbien