Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

76 Das Vetsee Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 7.) 
fall.) Das dient auch dem Wohle unserer evangelischen Kirche, die zweifel- 
los stark genug ist, aus sich selbst alle Irrtümer zu überwinden. (Beifall.) 
Das ist auch der Standpunkt, den meine Vorgänger auf diesem wichtigen 
Gebiet vertreten haben. Es wird wohl dem Hause nicht unbekannt sein, 
daß ich aufs heftigste angegriffen bin wegen der Besetzung eines Lehr- 
stuhles für alttestamentliche Theologie in Bonn, die gegen den Wunsch der 
Fakultät vollzogen wurde. Andererseits hat es wieder an Vorwürfen nicht 
gefehlt, daß ich den liberalen Richtungen zu weit entgegenginge. Ich 
möchte daraus den Schluß ziehen, daß ich den richtigen Weg gewählt habe. 
Ich bin der Ueberzeugung, daß bei dem Wettkampfe der Richtungen in 
der evangelischen Kirche sich von selbst die Spren vom Weizen sondert. 
(Lebhafter Beifall.) 
Präsident des evangelischen Oberkirchenrats D. Barkhausen: Ein 
wesentliches Korrektiv bei der Besetzung der theologischen Lehrstühle liegt 
darin, daß der Kirche selbst eine sehr weitgehende Mitwirkung bei der An- 
stellung der Professoren gegeben ist. Der obersten Kirchenbehörde steht es 
zu, ein Gutachten über die Anstellung der einzelnen Professoren abzugeben 
und ich kann konstatieren, daß seit den letzten 12 Jahren nicht in einem 
einzigen Fall eine Ernennung erfolgt wäre, welche gegen das Votum des 
Oberkirchenrats gewesen wäre. Durch das Entgegenkommen der Regierung 
ist es überhaupt dem Oberkirchenrat erst möglich geworden, sich über die 
Besetzung der Lehrstühle frei auszusprechen. Dadurch ist es gekommen, 
daß sich Angehörige beider theologischer Richtungen jetzt auf allen Univer- 
sitäten befinden. Ich verkenne gewiß nicht die große Bedeutung der An- 
stellung der Professoren für die Kirche; ich will nicht, daß irgendwie 
exzeptionelle Elemente auf die Lehrstühle kommen, aber der Kampf, der 
gegenwärtig auf dem Gebiet der evangelischen Kirche entbrannt ist, der 
wird nicht durch die Anstellung des einen oder anderen Professors ent- 
schieden, sondern allein in der Wissenschaft und seitens der Kirche durch 
die Organe, die dazu berufen sind, das ist für die protestantische Kirche die 
Generalsynode. (Beifall.) 
Professor Dr. Loening (Halle): Auf die theoretischen Erörterungen 
will ich nicht eingehen, sie gehören nicht in dieses Haus, ich muß aber 
gegen die schweren Vorwürfe, die hier gegen die Professoren erhoben sind, 
Verwahrung einlegen. Ich habe die größte Hochachtung vor jeder religiösen 
Ueberzeugung, aber ich verlange auch, daß man andere Ueberzeugungen 
achtet. Das ist hier leider nicht geschehen. Evangelische und katholische 
Kirche müssen in Deutschland friedlich zusammenleben. Die katholische 
Kirche hat eine Lehrautorität mit göttlicher Offenbarung ausgerüstet; eine 
solche Autorität kennt die evangelische Kirche nicht. Die freie Forschung 
aber ist das Recht, das wir uns allen erhalten müssen, mögen wir Theo- 
logen sein oder Laien. Ich stehe fest auf dem Boden der evangelischen 
Kirche, aber ich nehme für meine Kollegen, vor allem für die Professoren 
der theologischen Fakultät, das Recht der freien Forschung in Anspruch. 
Allerdings das Wort einer unbedingten Voraussetzungslosigkeit der Wissen- 
schaft, das in den letzten Monaten so oft gebraucht ist, ist sehr vieldeutig, 
es ist vielfach nur eine Phrase. Ich erkenne durchaus an, daß es auch 
für die theologische Wissenschaft eine Schranke gibt, und daß derzjenige, 
der nicht mehr auf dem Boden des Christentums steht, auch nicht Lehrer 
der Theologie bleiben kann; aber ich weiß auch, daß kein Lehrer irgend 
einer deutschen Universität es mit seinem Gewissen vereinigen könnte, in 
solchen Fällen sein Lehramt beizubehalten. Wollten wir die Wissenschaft 
der Theologie in enge Grenzen einschränken, so wäre das der Tod der 
evangelisch-theologischen Wissenschaft Deutschlands, die die erste Stelle ein-
	        
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