Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

182 Nas Deische Reich und seine einjelnen Glieder. (Dezember 10.) 
bei einem Altruismus, bei einer gegenseitigen Bruderliebe, wie sie meines 
Wissens in keinem Staatswesen und in keiner Gesellschaft anzutreffen ge- 
wesen ist. Ihre Republik, meine Herrn, wäre wie die Republik des Plato 
nur möglich bei Engeln und Engelsöhnen. Bilden Sie sich etwa nicht 
ein, ein solcher Engel zu sein. (Heiterkeit.) Sie sind mir ein netter Engel 
(Stürmische Heiterkeit), wenn Sie immerfort an Mißtrauen, an Haß, an 
alle schlechten menschlichen Eigenschaften appellieren. Wer den berechtigten 
und natürlichen Egoismus, auf dem bis jetzt jede menschliche und staatliche 
Ordnung beruht hat, ersetzen will durch eine angeblich höhere Form des 
Gemeindewesens, der muß selber anfangen, duldsam zu sein. Statt solcher 
Harmonie haben Sie uns in Dresden eine Kakophonie aufgeführt. (Große- 
Heiterkeit.) Der Abg. Bebel hat sich am Eingange seiner Ausführungen 
auch wiederum gegen den Militarismus gewendet. Er glaubt natürlich, 
es ginge auch ohne Armee oder mit einem Milizheer. Ich möchte nur 
wissen, was er täte, wenn wir von unseren Nachbar angegriffen würden. 
Gegenüber Zuständen, wie sie der Abg. Bebel hervorrufen will, läge die 
Versuchung für einen solchen Angriff sogar sehr nahe. Und selbst wenn 
er vermieden würde, so beweist doch die ganze Geschichte, daß der Beste 
nicht in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt. 
Was würden Sie nun also machen, Herr Bebel, wenn wir ohne starke 
und ohne wohldisziplinierte Armee von unseren Nachbarn angegriffen 
würden? Und die auswärtige Politik des Herrn Bebel zu realisieren, 
müssen wir eine viel stärkere Armee haben als heute. (Sehr richtig!) Er 
will überall intervenieren, in Finnland, Rumänien, sogar in der Mandschurei. 
(Heiterkeit.) Das ist ja an und für sich ganz schön und macht dem 
menschlichen Gefühl vielleicht alle Ehre. Das ist aber nicht durchzuführen 
ohne eine ganz ungewöhnlich starke Armee. Und wie denkt sich Herr 
Bebel die künftige Leitung der auswärtigen Politik? Wen haben Sie also 
beispielsweise als Minister des Aeußern ins Auge gefaßt? (Zuruf: Lede- 
bour! Heiterkeit.) Ich fürchte nach den Auslassungen des Herrn Bebel 
auf dem Dresdener Parteitag, daß es ein Akademiker nicht sein darf. 
(Heiterkeit.) Sich auf diese Fragen vorzubereiten, haben Sie doch allen 
Grund, wo Sie uns sagen, daß unser Untergang so nahe bevorsteht und 
wo Sie ebenfalls in Dresden erklärt haben, die Sozialdemokratie würde, 
wenn sie am Ruder wäre, ihre Sache ganz wunderschön machen, und wie 
denken Sie sich das Verhältnis zu Rußland (Heiterkeit), über das Sie sich 
eben in Ihrer so gehässigen Weise ausgesprochen haben? Vor einigen 
Wochen las ich in einer italienischen Zeitung einen Brief, den Herr Bebel 
an einen Freund, den Abg. Enrico Ferri, einen italienischen Sozialdemo- 
kraten, gerichtet hat. In dem Brief hieß es, die deutsche Sozialdemokratie 
ignoriere das Zarentum. (Zuruf des Abg. Bebel: Wenn es nach Deutsch- 
land kommt!) Aber glauben Sie, daß Sie, wenn Sie einmal am Ruder 
wären, das mächtige russische Reich mit 120 Millionen Einwohnern igno- 
rieren würden? Ich lese ständig in sozialdemokratischen Blättern Angriffe 
gegen Rußland, beinahe so scharf, wie sie hier der Abg. Bebel ausgesprochen 
hat, ich lese da beständig, kein Mittel solle unversucht gelassen werden, dem 
russischen Kaisertum den Abscheu und Haß des deutschen Volkes zum Aus- 
druck zu bringen. Glauben Sie, daß damit ein friedliches Verhältnis 
zwischen uns und Rußland möglich ist, wie es den wohlverstandenen Inter- 
essen des deutschen Volkes entspricht? Wer vor solchen Unklarheiten, vor 
solchen Widersprüchen, vor soviel Rätseln steht, der sollte sich mehr in 
seiner Kritik mäßigen, als es Herr Bebel getan hat. (Sehr gutl) Er soll 
nicht die bestehenden Einrichtungen umstürzen wollen, denn er hat gar 
nichts Besseres an die Stelle zu setzen. Das größte Pech, das Herrn Bebel 
 
	        
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