2 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 9./13.)
zu einer rosigen Auffassung kein Grund vorliege, weil die Mehrausgaben
der Eisenbahnen etwa 80 Prozent der Mehreinnahmen absorbierten und
weil das Extraordinarium den Ueberschuß vollends verzehre. Die Erhöhung
der Matrikularbeiträge könne zwar Preußen ohne Anleihe ertragen, aber
die Kleinstaaten seien nicht in dieser günstigen Lage, deshalb sei die Reichs-
finanzreform dringend erwünscht.
9./13. Januar. (Reichstag.) Erste Beratung der Reichs-
finanzreform (1905 S. 135).
Schatzsekretär Frhr. v. Stengel bittet die Parteien, die eine Ver-
ständigung mit der Regierung wünschen, sich nicht sogleich sondern erst
nach den Kommissionsberatungen in ihrem Urteil über die Vorschläge fest-
zulegen. Eine Aenderung des bestehenden Zustandes müsse herbeigeführt
werden. Abg. Speck (Z.): Ein bedauerliches Defizit sei vorhanden, aber
der Schatzsekretär habe die Einnahmen, z. B. die Zollerträge, zu niedrig
geschätzt. Die Stempelsteuer würde zu Verkehrsbelästigungen führen; wegen
der Quittungssteuer würden weniger Quittungen ausgestellt und damit
eine Unsicherheit im Verkehr geschaffen werden. Die Fahrkartensteuer sei
ungerecht für den kleinen Mann. Die Tabaksteuer sei nur annehmbar,
wenn man die minderwertigen Waren, den Massenverbrauch frei lasse.
Auch die Biersteuer, die namentlich Süddeutschland beeinträchtige, müsse
erheblich modifiziert werden. Die Erträge aus der Erbschaftssteuer könnten
vermehrt werden durch die Ausdehnung der Steuer auf die Erbschaften
der Deszendenten und Ehegatten für die großen Vermögen. Hoffentlich
lasse sich in der Kommission die dringend nötige Verständigung finden.
Abg. Singer (Soz.): Alle Reichsbedürfnisse müßten durch Reichseinkommen-
und Reichserbschaftssteuern gedeckt werden, aber die Vorschläge der Regie-
rung und des Vorredners seien viel zu zaghaft. Die anderen Steuern
seien als Belastung des kleinen Mannes sämtlich zu verwerfen. Abg.
Büsing (nl.): Eine gründliche Finanzreform sei nötig, aber der Reichstag
werde die Vorlagen gründlich sichten. Ohne Entgegenkommen der Regie-
rung in der Erweiterung der Erbschaftssteuer sei eine Verständigung kaum
möglich. Die Erhöhung der Biersteuer sei gerecht und werde manche un-
rationellen Zwergwirtschaften beseitigen. An der Tabaksteuer sei dagegen
eine Aenderung schädlich, ebenso müßten die Stempelsteuern abgelehnt
werden, nur die Fahrkartensteuer sei annehmbar.
10. Januar. Abg. Rettich (kons.) will über die Bier-, Tabak- und
Stempelsteuern eine Verständigung versuchen, lehnt aber die Erbschafts-
steuer grundsätzlich ab, die als direkte Steuer den Einzelstaaten zukomme.
Die Landwirtschaft würde dabei schlecht fahren; denn da in der Landwirt-
schaft seit langer Zeit keine Vermögen mehr erworben würden, so wäre
eine Erbschaftssteuer eine Konfiskation. Ein Kohlenausfuhrzoll und eine
Weinsteuer seien in Erwägung zu ziehen. Abg. Wiemer (fr. Vp.): Die
erste Bedingung der Steuerreform müsse die Aufhebung der Branntwein-
Liebesgabe sein. Die Freisinnigen sähen nur die Erbschaftssteuer als an-
nehmbar an, aber ihre Begünstigung der Landwirtschaft und der Religions-
gesellschaften sei bedenklich. Abg. v. Kardorff (RP.) teilt den Standpunkt
der Konservativen über die Erbschaftssteuer nicht und rechnet auf eine Ver-
ständigung, da eine Vermehrung der Reichseinnahmen nötig sei. Abg.
Pachnicke (fr. Vg.): Mit der Aufhebung der Liebesgabe könne man
40 Millionen Mark gewinnen. Die Brausteuer werde auf die großen
Brauereien außerordentlich belastend wirken und die ohnehin ungünstige
Lage der Gastwirte verschlechtern. Ebenso sei die Tabaksteuer ungerecht
und die Stempelabgabe schädlich, die Erbschaftssteuer müsse dagegen aus-