Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Bes Veische Reich und seine einjelnen Glieder. (Dezember 13.) 225 
äußerste Linke auf, nicht mit den Händen zu klatschen, worauf ihm von 
allen Seiten im Saale zugerufen wird: Die Tribünen!) Die Kaiserliche 
Verordnung lautet: „Wir, Wilhelm von Gottes Gnaden, Deutscher Kaiser, 
König von Preußen u. s. w., verordnen auf Grund des nach Artikel 24 
der Verfassung vom Bundesrat unter unserer Zustimmung gefaßten Be- 
schlusses im Namen des Reichs, was folgt: Der Reichstag wird hierdurch 
aufgelöst. (Stürmischer Beifall auf verschiedenen Seiten des Saales und 
wiederholtes Händeklatschen auch auf den Tribünen.) Urkundlich unter 
unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen 
Insiegel. Gegeben, Bückeburg, den 13. Dezember 1906. Wilhelm. 6g3. 
v. Bülow.“ Auf Grund dieser Kaiserlichen Verordnung erkläre ich im 
Namen der verbündeten Regierungen auf Befehl Sr. Majestät des Kaisers 
die Sitzungen des Reichstages für geschlossen. (Wiederholter stürmischer 
Beifall im Saale und auf den Tribünen.) 
Präsident Graf Ballestrem: Wir aber, meine Herren, trennen 
uns (Große Unruhe links; die Sozialdemokraten drängen aus dem Saale) 
wie immer mit dem Rufe der Treue, Liebe und Ehrerbietung: Se. Moajestät 
der Deutsche Kaiser, König Wilhelm II. von Preußen, er lebe hoch! (Die 
Mitglieder des Reichstags und des Bundesrats und die auf den Tribünen 
anwesenden Zuhörer stimmen begeistert dreimal in den Hochruf ein.) 
Für den Antrag Ablaß stimmten 18 Mitglieder der Freisinnigen 
Volkspartei, 3 Mitglieder der Deutschen Volkspartei, 9 Mitglieder der Frei- 
sinnigen Vereinigung, 49 Nationalliberale, 19 Freikonservative, 50 Kon- 
servative, 18 Antisemiten und Mitglieder der Wirtschaftlichen Vereinigung, 
sowie der Däne Hanssen und aus dem Zentrum die 4 Abgeordneten Graf 
Ballestrem, Humann, Savigny und v. Strombeck. Gegen den freisinnigen 
Antrag stimmen 82 Zentrumsabgeordnete und Welfen, 75 Sozialdemokraten, 
13 Polen, 4 Elsässer und das Mitglied der Wirtschaftlichen Vereinigung 
Bachmeier. Bei der Abstimmung über die Regierungsvorlage gingen die 
beiden Zentrumsabgeordneten Humann und v. Savigny zu dem Gros der 
eigenen Partei über, während der Zentrumsabgeordnete v. Strombeck sich 
der Stimme enthielt. Der Präsident Graf Ballestrem stimmte für die Re- 
gierungsvorlage. Im übrigen blieb die Parteigruppierung die gleiche. Von 
den Parteien, welche für den freisinnigen Antrag und die Regierungs- 
vorlage stimmten, fehlten 16, von den Gegnern 33 Mitglieder. 
13. Dezember. Eine Sonderausgabe der „Norddeutschen All- 
gemeinen Zeitung“ veröffentlicht folgende Kundgebung: 
„Der Reichstag ist der Auflösung verfallen, weil seine Mehrheit den 
verbündeten Regierungen die Mittel zur Erfüllung einer nationalen Auf- 
gabe versagt hat. Durch Ablehnung der für die Zukunft Südwestafrikas 
unerläßlichen Forderungen ist Deutschlands Stellung in der Welt empfind- 
lich getroffen. Sache des deutschen Volkes ist es, darauf Antwort zu geben! 
Schwer genug wiegt schon, was im nationalen Besitzstand Südwestafrika 
durch sich selbst bedeutet, was es uns geworden ist, durch das Blut er- 
mordeter Männer und Frauen, durch schwere hingebungsvolle Kämpfe un- 
serer Truppen, durch Leiden und Heldentot so vieler Braven! Und was 
es uns nach dem Urteil aller Kenner des Landes wirtschaftlich noch werden 
kann. In dem Augenblick, wo uns in der Zukunft dieser so teuer er- 
kämpften Schutzgebiete günstigere Sterne aufgehen, die von Sachverständigen 
für unentbehrlich erklärten Streitkräfte verringern, heißt unter den gegen- 
wärtigen Umständen, die kaum gesicherte Kolonie neuen Gefahren aussetzen, 
und den Maßregeln zur endgültigen fruchtbringenden Aneignung unseres 
südwestafrikanischen Besitzes von vornherein das Rückgrat brechen. Es 
Europäischer Geschichtskalender. XLVII. 15
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.