Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Das Veuische Reich und seine einzeluen Glieder. (Dezember 31.) 233 
Deutschland gibt es keine einheitliche liberale Partei, die den klaren Willen 
und die Fähigkeit Fezeigt hätte, positive Politik zu machen. Es ist jetzt 
nicht der Augenblick, Fehler, die begangen, Gelegenheiten, die versäumt 
worden sind, nachzurechnen. Jedenfalls haben es innere Uneinigkeit, 
negativer Doktrinarismus, Uebertreibung der Prinzipien und Unterschätzung 
des praktisch Erreichbaren nicht zu dem vom Liberalismus erstrebten Ein- 
fluß auf die Regierungsgeschäfte kommen lassen. Erst im letzten Jahrzehnt 
hat sich darin manches geändert. Ich denke an Eugen Richters Kampf 
gegen die Sozialdemokratie, an die fortschreitende Ueberwindung der 
Manchesterdoktrin, vor allem an das wachsende Verständnis für große 
nationale Fragen. Manches wird noch zu lernen sein: Maßhalten, rich- 
tiges Augenmaß und Blick in die Nähe, Sinn für historische Kontinuität 
und reale Bedürfnisse. Ich glaube nun keineswegs, daß aus den Wahlen 
eine große geeinigte liberale Partei hervorgehen und etwa den Platz des 
Zentrums einnehmen könnte. Wohl aber könnten die Parteien der Rechten 
die nationalliberale Partei und die weiter links stehenden freisinnigen 
Gruppen bei zielbewußtem Vorgehen im Wahlkampf so viel Boden ge- 
winnen, um eine Mehrheit von Fall zu Fall zu bilden. Den starken 
Gegensatz, der bisher zwischen den Parteien der Rechten und denen der 
bürgerlichen Linken in wirtschaftlichen Fragen bestanden hat, halte ich für 
kein unüberwindliches Hindernis. Der unbedingt notwendige Schutz der 
Landwirtschaft ist in den neuen Handelsverträgen auf ein Jahrzehnt hin- 
aus gesichert, und mancher freisinnige Mann hat schon unter vier Augen 
zugegeben, daß die Verträge auch für die städtischen Interessen nicht un- 
günstig gewirkt haben. Jedenfalls müssen die Gegner der Handelsverträge 
anerkennen, daß sich Handel und Industrie fortdauernden Aufschwunges 
erfreuen. Andererseits führt bereits eine gute Brücke über das trennende 
Wasser. Die konservativen Parteien und die Nationalliberalen sind in 
allen großen Fragen, wo es sich um Wohl und Wehe der Nation, ihre 
Einheit, ihre Machtstellung handelte, zuverlässig gewesen. Die Nation ging 
ihnen über die Partei; das ist ihr Ruhm, den werden sie behaupten. Je 
mehr auf der Linken die Bereitschaft zur Befriedigung der großen natio- 
nalen Bedürfnisse für den Kolonialbesitz für Heer und Flotte zunimmt, 
um so breiter und fester kann die Brücke werden, und wohl würden sich 
auch die nationalgesinnten Elemente, die im Zentrum vorhanden sind, mit 
allen anderen bürgerlichen Parteien in solchen Fragen leichter zusammen- 
finden, wenn mit dem Wegfall der Möglichkeit einer schwarz-roten Majo- 
rität der Fraktionsegoismus des Zentrums der Handhabe beraubt wäre, 
sich rücksichtslos gegen die Regierung geltend zu machen. Die bedenklichste 
Folge davon, daß sich das Zentrum der sozialdemokratischen Stimmen zur 
Bildung eines oppositionellen Blockes bedienen konnte, war die Bedeutung, 
die dadurch die Sozialdemokratie selbst im verflossenen Reichstage erlangte. 
Da bietet sich ein weiteres hochwichtiges Feld gemeinsamer Sorgen und 
Arbeit aller nationalen Elemente. Entgegen der leider in einigen libe- 
ralen Köpfen noch herrschenden Idee, daß die Reaktion im Reiche von 
rechts drohe und Seite an Seite mit der Sozialdemokratie zu bekämpfen 
sei, liegt nach meiner festen Ueberzeugung die wahre Reaktion oder die 
wahre Gefahr der Reaktion bei der Sozialdemokratie. Nicht nur sind ihre 
kommunistischen Zukunftsträume kulturfeindlich, die Mittel zu ihrer Ver- 
wirklichung brutaler Zwang — alles, was sich etwa irgendwo in Deutsch- 
land an reaktionärer Gesinnung findet, gewinnt Kraft und Recht durch 
die sozialistische Unterwühlung der Begriffe von Obrigkeit, Eigentum, Re- 
ligion und Vaterland. Auf den wild gewordenen Spießbürger und phrasen- 
trunkenen Gleichmacher Robespierre folgte der Degen Bonapartes, er
	        
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