Das Veuische Reich und seine einzeluen Glieder. (Dezember 31.) 233
Deutschland gibt es keine einheitliche liberale Partei, die den klaren Willen
und die Fähigkeit Fezeigt hätte, positive Politik zu machen. Es ist jetzt
nicht der Augenblick, Fehler, die begangen, Gelegenheiten, die versäumt
worden sind, nachzurechnen. Jedenfalls haben es innere Uneinigkeit,
negativer Doktrinarismus, Uebertreibung der Prinzipien und Unterschätzung
des praktisch Erreichbaren nicht zu dem vom Liberalismus erstrebten Ein-
fluß auf die Regierungsgeschäfte kommen lassen. Erst im letzten Jahrzehnt
hat sich darin manches geändert. Ich denke an Eugen Richters Kampf
gegen die Sozialdemokratie, an die fortschreitende Ueberwindung der
Manchesterdoktrin, vor allem an das wachsende Verständnis für große
nationale Fragen. Manches wird noch zu lernen sein: Maßhalten, rich-
tiges Augenmaß und Blick in die Nähe, Sinn für historische Kontinuität
und reale Bedürfnisse. Ich glaube nun keineswegs, daß aus den Wahlen
eine große geeinigte liberale Partei hervorgehen und etwa den Platz des
Zentrums einnehmen könnte. Wohl aber könnten die Parteien der Rechten
die nationalliberale Partei und die weiter links stehenden freisinnigen
Gruppen bei zielbewußtem Vorgehen im Wahlkampf so viel Boden ge-
winnen, um eine Mehrheit von Fall zu Fall zu bilden. Den starken
Gegensatz, der bisher zwischen den Parteien der Rechten und denen der
bürgerlichen Linken in wirtschaftlichen Fragen bestanden hat, halte ich für
kein unüberwindliches Hindernis. Der unbedingt notwendige Schutz der
Landwirtschaft ist in den neuen Handelsverträgen auf ein Jahrzehnt hin-
aus gesichert, und mancher freisinnige Mann hat schon unter vier Augen
zugegeben, daß die Verträge auch für die städtischen Interessen nicht un-
günstig gewirkt haben. Jedenfalls müssen die Gegner der Handelsverträge
anerkennen, daß sich Handel und Industrie fortdauernden Aufschwunges
erfreuen. Andererseits führt bereits eine gute Brücke über das trennende
Wasser. Die konservativen Parteien und die Nationalliberalen sind in
allen großen Fragen, wo es sich um Wohl und Wehe der Nation, ihre
Einheit, ihre Machtstellung handelte, zuverlässig gewesen. Die Nation ging
ihnen über die Partei; das ist ihr Ruhm, den werden sie behaupten. Je
mehr auf der Linken die Bereitschaft zur Befriedigung der großen natio-
nalen Bedürfnisse für den Kolonialbesitz für Heer und Flotte zunimmt,
um so breiter und fester kann die Brücke werden, und wohl würden sich
auch die nationalgesinnten Elemente, die im Zentrum vorhanden sind, mit
allen anderen bürgerlichen Parteien in solchen Fragen leichter zusammen-
finden, wenn mit dem Wegfall der Möglichkeit einer schwarz-roten Majo-
rität der Fraktionsegoismus des Zentrums der Handhabe beraubt wäre,
sich rücksichtslos gegen die Regierung geltend zu machen. Die bedenklichste
Folge davon, daß sich das Zentrum der sozialdemokratischen Stimmen zur
Bildung eines oppositionellen Blockes bedienen konnte, war die Bedeutung,
die dadurch die Sozialdemokratie selbst im verflossenen Reichstage erlangte.
Da bietet sich ein weiteres hochwichtiges Feld gemeinsamer Sorgen und
Arbeit aller nationalen Elemente. Entgegen der leider in einigen libe-
ralen Köpfen noch herrschenden Idee, daß die Reaktion im Reiche von
rechts drohe und Seite an Seite mit der Sozialdemokratie zu bekämpfen
sei, liegt nach meiner festen Ueberzeugung die wahre Reaktion oder die
wahre Gefahr der Reaktion bei der Sozialdemokratie. Nicht nur sind ihre
kommunistischen Zukunftsträume kulturfeindlich, die Mittel zu ihrer Ver-
wirklichung brutaler Zwang — alles, was sich etwa irgendwo in Deutsch-
land an reaktionärer Gesinnung findet, gewinnt Kraft und Recht durch
die sozialistische Unterwühlung der Begriffe von Obrigkeit, Eigentum, Re-
ligion und Vaterland. Auf den wild gewordenen Spießbürger und phrasen-
trunkenen Gleichmacher Robespierre folgte der Degen Bonapartes, er