Das Venische Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 8.) 95
8. Mai. (Württemberg.) In der Zweiten Kammer er-
widert Minister des Innern v. Pischek auf mehrere Angriffe gegen
das Vereinsgesetz:
Nach alter Erfahrung sehe der Mensch, wenn er etwas Altes auf-
geben soll, nur noch die schöne Seite des Alten, vergesse die Mißstände
und trete dem Neuen mit Mißtrauen entgegen. Das zeige sich auch hier.
Oeffentliche Versammlungen waren seither schon entweder bekannt zu
machen oder anzuzeigen. Die Versammlungen konnten polizeilich besucht
und überwacht werden, und zwar ohne Beschränkung in der Zahl der
Polizeipersonen. Das Gesetz von 1848 gestattete Versammlungen zur
Besprechung öffentlicher Angelegenheiten ohne polizeiliche Erlaubnis, wenn
nicht den Strafgesetzen oder den Verfügungen für die Erhaltung der
öffentlichen Ordnung zuwider gehandelt wurde. War die öffentliche Ord-
nung gefährdet, so konnten solche Versammlungen verboten oder aufgelöst
werden, ohne daß ein Rechtsmittel dagegen bestand. Allerdings in der
Praxis war die Ueberwachung der Versammlungen nur ein seltener Aus-
nahmefall, aber das jetzige Reichsgesetz zwingt doch nicht zur Ueberwachung.
Es schränkt sogar das Recht der Ueberwachung ein. 1. dürfen es nur
zwei Beamte sein und 2. müssen sie sich der Versammlung als Beauf-
tragte zu erkennen geben. Das war bisher nicht notwendig, und die
Herren kennen vielleicht die seitherige Praxis nicht ganz so genau, wie sie
glauben. (Heiterkeit.) Er sehe nicht ein, warum die künftige Praxis
weniger liberal sein solle als bisher. (Bravol) Eine Aenderung in der
Ueberwachungspraxis werde gegen seither nicht stattfinden. Wenn es den
Herren eine Beruhigung sei, das in die Vollzugsverfügung hineinzuschreiben,
so könne das geschehen. Er habe vorgesehen, die Bestimmung aufzunehmen,
daß nur beim Vorliegen besonderer Umstände überwacht werden soll.
Keine Anzeige soll erforderlich sein, bei allen Wahlversammlungen, bei
allen Versammlungen im Sinne des § 152 der Gewerbeordnung, wobei
er bemerkte, daß die letzteren Versammlungen überhaupt nicht als politische
Versammlungen betrachtet werden und daß deshalb auch Personen unter
18 Jahren zu ihnen zugelassen werden können. Im übrigen werde der
Jugendlichenparagraph nicht schikanös gehandhabt. Die 24 stündige Frist
sei nicht schlimm und weiche nicht viel von der seitherigen Praxis ab.
Die freiheitlichen Errungenschaften des Gesetzes seien überwiegend. Die
Regierung habe die Absicht, die Vollzugsverfügung und die Praxis so zu
gestalten, daß das Volk einen erheblichen Unterschied gegen seither nicht
spüren werde. (Beifall.) Der Minister bespricht nun den Antrag Dr. Elsas.
In die Vollzugsverfügung aufzunehmen, daß die unbeschränkte Vereins-
bildung auch den Beamten und Unterbeamten zustehe, gehe über den
Rahmen der Vollzugsverfügung hinaus und wäre eine Interpretation
des Reichsgesetes. Der Grundsatz des § 1 des Reichsvereinsgesetzes beziehe
sich nach dem Bericht ausdrücklich nicht auf die Disziplinarvorschriften der
Beamten. Gewerkschaftliche Vereine, die sich im Rahmen des § 152 der
Gewerbeordnung halten, werden als politische Vereine nicht angesehen.
Er sei bereit, das in die Vollzugsverfügung aufzunehmen. Seien diese
Gewerkschaftsversammlungen öffentlich zugänglich, so unterliegen sie der
Anzeigepflicht, der Ueberwachung und der Auflösungsmöglichkeit, nicht aber
dem Jugendlichenverbot. Wenn allerdings solche Versammlungen eine
Einwirkung auf die Gesetzgebung oder Verwaltung bezwecken, seien sie als
politische Versammlungen zu betrachten und den diesbezüglichen Bestim-
mungen unterworfen. (Hört! hört!) Im allgemeinen werden die Polizei-
beamten in Zivil zur Ueberwachung kommen. Wenn aber Gewalttätigkeiten