Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1908. (49)

D#es Vensche Reich und seine einjelnen Glieder. (April 19.) 87 
bedeuten würde. Der Minister Graf Hohenthal vertrat die Notwendigkeit 
der Kommunalwahlen und verwarf sowohl ein plutokratisches Pluralsystem 
als überhaupt jedes andere System, das zu einer Majorität der Masse 
über Besitz und Bildung führen könne. Abg. Dr. Kühlmorgen machte 
daraufhin den Vorschlag, nicht mehr als 30 Abgeordnete durch Kommunal- 
wahlen wählen zu lassen, und zwar nicht durch die Bezirksverbände, son- 
dern durch Stadträte und Stadtverordnete in Städten mit revidierter 
Städteordnung, durch Gemeindekollegien in ländlichen Gemeinden bei be- 
sonderer Wahlkreiseinteilung. Dann wurde die geheime Wahl mit 14 
gegen 7 Stimmen beschlossen, ebenso die Einführung des staatlichen Wahl- 
kouverts. Bei der Behandlung der Frage der Wahlpflicht wurde beschlossen, 
sie in der Weise einzuführen, daß derjenige, der ohne triftigen Grund 
zwei Wahlen hintereinander nicht gewählt hat, in eine kleine Ordnungs- 
strafe fällt, die an die Armenkasse des Ortes zu zahlen ist. Ferner wurde 
ein Antrag des konservativen Abgeordneten Andrä (B. d. L.) angenommen, 
der Zusatzstimmen 1. auf das Alter von 45 Jahren, 2. Ansässigkeit, 3. Selb- 
ständigkeit und 4. auf Steuerzahlung und Vorbildung vorschlägt. Den 
Verhältniswahlen endlich wurde nur bedingt zugestimmt. Schließlich lag 
noch ein Antrag des Abg. Dr. Kühlmorgen vor, das Pluralwahlrecht zu 
ergänzen durch das Wahlrecht der Gemeindevertreter, wobei zu berück- 
sichtigen ist: die Ziffer der durch Gemeindevertreter zu wählenden Ab- 
geordneten darf die Zahl der nach der Vorlage von den Kommunal- 
verbänden zu wählenden Abgeordneten nicht erreichen, sondern höchstens 
ein Drittel der Kammermitglieder betragen. Ein Einfluß der Regierungs- 
beamten darf bei diesen Wahlen in keiner Weise in Frage kommen. Der 
plutokratische Charakter des Gemeindewahlrechts solle beseitigt werden da- 
durch, daß der Einfluß der Höchstbesteuerten bei diesen Wahlen völlig aus- 
geschlossen wird. Die Staatsregierung erklärte diesen Antrag für beacht- 
lich, worauf Graf Hohenthal dann selbst den Vermittlungsvorschlag ein- 
brachte, der die Wahl von Gemeindeabgeordneten unter Ausscheidung der 
Höchstbesteuerten, aber unter Hinzunahme von Mitgliedern der Handels- 
und Gewerbekammern und des Landeskulturrates vorsieht. Weiterhin gab 
Graf Hohenthal die Erklärung ab, daß für die Regierung ein Plural= 
system allein, ohne Verbindung mit dem vorgeschlagenen zweiten System 
unannehmbar sei. Am Schlusse des Berichts bemerkt der Verfasser, daß 
es der Deputation zweifelhaft erscheine, ob auf dem von der Regierung 
vorgeschlagenen Wege zu einer Verständigung über die überaus schwierige 
Wahlrechtsfrage zu gelangen sein werde. Die Verhandlungen seien vor- 
läufig beendet und es bleibe der Deputation nur die Hoffnung, daß sie 
aller Schwierigkeiten ungeachtet, schließlich doch noch imstande sein werde, 
die Wahlrechtsfrage in einer dem Lande zum Heile gereichenden Weise zu 
lösen. Ob diese Hoffnung sich verwirklichen wird, darüber herrscht angen- 
blicklich noch vollständige Unklarheit. Das „Nationalliberale Vereinsblatte, 
das offizielle Organ der Nationalliberalen Partei Sachsens, äußert in der 
soeben herausgegebenen Nummer die Ansicht, daß Graf Hohenthal, nach- 
dem er nun einmal erklärt hat, er werde dem Könige ein einheitliches 
Pluralwahlrecht unter keinen Umständen empfehlen, wenn er keinen anderen 
Ausweg weiß, den König um seine Entlassung bitten werde. Der König 
werde jedoch den Minister voraussichtlich nicht gehen lassen, und dann 
werde eine neue Sachlage geschaffen sein. Graf Hohenthal könne dann 
auf seinen Einspruch verzichten und seine Räte beauftragen, ein Wahlgesetz 
nach dem Willen der Zweiten Kammer auszuarbeiten. Freilich werde in 
diesem Falle wegen der vorgeschrittenen Zeit eine Vertagung auf den Herbst 
unvermeidlich, aber mit dieser Vertagung müsse man sich ja ohnehin ab-
	        
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