Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

32 Des Penisthe Reith und seine einjelnen Glieder. (Januar 26./26.) 
form der Finanzen im Reiche und in Preußen (sehr gut! links). Einst- 
weilen freilich hat man nur ganz leise Laute gehört, von einem Hilfs- 
arbeiter, der zu den statistischen Vorarbeiten ins Ministerium berufen und 
dann wieder entlassen werden soll. (Heiterkeit.) Ich bin im Laufe eines 
langen parlamentarischen Lebens gegen die in Vorarbeit befindlichen Vor- 
lagen außerordentlich mißtrauisch geworden, Dutzende von Gegenständen aus 
Reichstag und Landtag könnte ich Ihnen nennen, bei denen die Vorarbeiten 
auch bis zum heutigen Tage noch immer nicht haben fertig werden wollen. 
(Heiterkeit und Zustimmung links.) Zur Wahlrechtsfrage hat das Mini- 
sterium schon 1890 zugestanden, daß das Dreiklassenwahlrecht mangelhaft 
und reformbedürftig sei, man sei in Vorarbeiten über seine Verbesserung 
begriffen, und als nach abermals sechs Jahren ein etwas neugieriger und 
ungeduldiger Abgeordneter (Heiterkeit) nach dem Stande der Vorarbeiten 
fragte, wurde ihm der Bescheid, daß sie noch immer fortgesetzt würden. 
Die Sammelltätigkeit ist gewiß außerordentlich anerkennenswert, aber sie 
muß doch endlich einmal zu Ende gehen. (Sehr wahr! links.) Heute hat 
uns der Minister des Innern die trostreiche Versicherung gegeben, daß 
diese Vorarbeiten sehr bald abgeschlossen sein würden und wir einer Vor- 
lage entgegensehen könnten, hoffentlich deckt sich dieses „sehr bald“ mit 
unserer Zeitauffassung. (Sehr gut! links.) Die letzten Neuwahlen haben 
in Beziehung auf das Wahlrecht die alten Uebelstände nur noch verschärft 
hervortreten lassen. Ein ganz besonders schroffes Beispiel für die Un- 
gerechtigkeit dieser Einteilung ist mir aus dem 94. Wahlbezirk von Königs- 
berg i. Pr., der Umgegend des Doms, bekannt. Dort wählt in der ersten 
Klasse mit fünf anderen Herren der Besitzer eines bekannten Freudenhauses, 
während die beiden Domprediger, deren erster Konsistorialrat, Doktor und 
Ehrendoktor ist, mit 354 Wählern zusammen in der dritten Klasse wählen. 
(Hört, hört! links.) Kann man sich eine größere Ironie denken, Kirche 
und Bordell, das klingt wie der Titel eines Hintertreppenromans und ist 
nichts weiter als eine Wahrheit aus dem preußischen Wahlrecht. Ebenso 
klassisch ift das Beispiel von dem Reichskanzler in der dritten Klasse und 
dem Wurstfabrikanten als einzigem Wähler in der ersten. In einer Denk- 
schrift des preußischen Ministertums zur Verteidigung des oktroyierten Wahl- 
rechts wurde auseinandergesetzt, daß die dritte Klasse die Summe aller 
physischen Kräfte zusammenfasse, die erste Klasse aber die Blüte der In- 
telligenz. Das Gewicht, das man anscheinend dem materiellen Vermögen 
beilegt, kommt in der Tat der höheren Intelligenz zugute. Auf der einen 
Seite Bordellwirt und Wurstfabrikant, auf der anderen Reichskanzler und 
Konsistorialrat, das zeigt, wie wenig sich die Hoffnung dieser ministeriellen 
Denkschrift erfüllt hat. 
Die Ungleichheiten des Wahlgesetzes werden noch verschärft durch 
die 48 Jahre alte Wahlkreiseinteilung. Das Wahlgesetz von 1849 
verordnete, daß bei jeder Neuwahl eine Neueinteilung der Wahlkreise 
erfolgen müsse. Geht das vielleicht auch zu weit, so ist doch jetzt eine 
Neueinteilung der Wahlkreise unabweisbar. Preußens Einwohnerzahl hat 
sich seitdem fast verdreifacht, der alte Agrarstaat ist unaufhaltsam wie nach 
einem Naturgesetz ein Industriestaat geworden, der bald an der Spitze der 
Industriestaaten steht. Infolgedessen muß sich jetzt die eine Hälfte der 
Wähler mit 140 Mandaten begnügen, während die andere Hälfte 303 Man- 
date hat. Dieses Mißverhältnis der starken und schwachen Wahlkreise muß 
unter allen Umständen ins Gleiche gebracht werden, hier ist die Möglichkeit 
einer „organischen Fortentwickelung“ ausgeschlossen, hier muß grundsätzlich 
eine Aenderung herbeigeführt werden. (Sehr wahr! links.) Wir sind aber 
nicht bloß Preußen, wir sind auch Deutsche. Preußen ist der bedeutendste,
	        
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