Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

34 JNos Veuische Reich uad seine einzelnen GSlieder. (Januar 26./26.) 
Ebenso haltlos erscheint mir der fernere Einwand gegen das Reichstags- 
wahlrecht, daß das preußische Wahlrecht ein Palladium des Mittelstandes 
sei. Ich habe mich gewundert, daß gerade Herr Malkewitz, ein im prak- 
tischen Leben stehender Mann, diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund 
gerückt hat. Zu dem Mittelstande gehören auch die kleinen Handwerker, 
die kleinen Kaufleute, das Heer der Privatangestellten, und alle diese Leute 
wählen in der dritten Klasse. (Sehr wahr! links.) Ja sogar viele Rechts- 
anwälte und Aerzte, die unbedingt zum Mittelstande gerechnet werden 
müssen, kommen in keine höhere Klasse. (Sehr wahr! links.) Ich meine 
daher, daß der Mittelstand am besten geschützt wird, wenn auch er in dem 
Wahlrecht selbständig gemacht wird, wenn jeder dem Mittelstande An- 
gehörige seine volle Stimme erhält. Dieses hohe Haus gewährt gewiß einen 
außerordentlich erfreulichen Anblick Heiterkeit), aber wer viele Mittelstands- 
leute darin suchte, würde manchen Schönheitsfehler an ihm entdecken. Vor 
allem aber ist der Mittelstand am meisten gefährdet durch die Beibehaltung 
der öffentlichen Stimmabgabe. Die Stimme aus dem Süden, Herr v. Payer, 
sagt dazu, daß in Süddeutschland die geheime Wahl einfach als innerstes 
Stück politischer Moral betrachtet wird, damit bei der Abstimmung der wirt- 
schaftlich Schwache der Gefahr der Unterdrückung durch die Herren von oben 
wie von unten nicht ausgesetzt sei. (Hört, hört! und Zustimmung links.) 
In der schon zitierten ministeriellen Denkschrift wird die Gefahr 
der Wahlbeeinflussung ausdrücklich zugegeben, aber dagegen angeführt, daß, 
wenn solche Machenschaften vorkämen, alle Leute, die das Herz auf dem 
rechten Fleck hätten, herbeieilen würden, um den Märtyrern der Ueber- 
zeugung Hilfe und Schutz angedeihen zu lassen. (Heiterkeit links.) Die Ver- 
fasser dieser Denkschrift waren vielleicht gute Minister, aber jedenfalls 
schlechte Propheten. (Heiterkeit.) Denn jetzt ist die Wahlbeeinflussung 
geradezu an der Tagesordnung, nicht bei einer Person, sondern bei vielen. 
(Sehr wahr! links.) Wo der Hunger anfängt, die Sorge um die Existenz 
und die Familie, da genügt es nicht, daß man sagt, es sei eines deutschen 
Mannes unwürdig, seine Stimme nicht nach seiner Ueberzeugung offen 
abzugeben, da muß die Freiheit der Meinung auf andere Weise gesichert 
werden. (Sehr wahr! links.) Bei der Reichstagswahl ist der Wahlzettel 
der Schutzbrief für die Ueberzeugungsfreiheit des Mannes. (Sehr gut! 
links.) Der gegenwärtige Reichskanzler hat den Schutz des Wahlgeheim- 
nisses im Reiche noch verstärkt. Warum will er da die Stimme des 
Preußen der Oeffentlichkeit mit allen Nachteilen, die damit verbunden 
sind, preisgeben! Dazu kommt noch das Bedenklichste in Preußen, die 
Wahlbeeinflussung durch die Behörden. Fürst Bülow hat allerdings im 
Januar versichert, daß die Regierung eine ganz unparteiische Haltung ein- 
nehmen werde. Aber seine Restkripte sind entweder falsch verstanden oder 
gar nicht beachtet worden. Die „kleinen Minister“, die Herren Landräte, 
haben auch bei der letzten Wahl wieder das Ihrige getan. (Sehr wahr! 
links.) Ich will den Beamten die Betätigung ihrer Ueberzeugung nicht 
beschränken, aber sie müßten sich jeder Verbindung enthalten. Wenn aber, 
wie im schleswigschen Wahlkreise, der Landrat den Kandidaten, natürlich 
den Konservativen, in seinem Automobil herumfährt, so stempelt er ihn 
schon durch seine Anwesenheit, durch sein Automobil (Heiterkeit) zum 
Regierungskandidaten. Dem Abg. Lasker hat es Fürst Bismarck nie ver- 
gessen, daß ihm unser Freund Baumbach einmal die Landratskutsche 
(Heiterkeit) zur Wahlagitation zur Verfügung gestellt hat. Aber was der 
Landratskutsche des freisinnigen Landtagskandidaten recht ist, ist dem Land- 
ratsautomobil des Konservativen noch lange nicht billig. Eine andere 
Methode, um den Landräten unbequeme Kandidaten zu schikanieren, ist
	        
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