Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

### Neuische Reich und seine eintelnen Slieder. (Januar 25./26.) 35 
die Berlegung des Wahlorts von ihrem Wohnsitz nach irgendeiner möglichst 
entfernten Ecke des Wahlkreises. 
Die Einführung des geheimen Stimmrechts halte ich also 
für absolut notwendig. Aber das geheime Wahlrecht kann nicht die einzige 
Berbesserung bleiben, weil über die andern Mängel des Dreiklassenwahl- 
rechts selbst die geheime Wahl nicht hinweghelfen kann. (Sehr wahr! links.) 
Wir müssen darauf bedacht sein, das Wahlrecht selbst, den Kern des Wahl- 
rechts so fest als möglich zu machen. Für das geheime Wahlrecht treten 
übrigens auch das Zentrum und die Nationalliberalen ein, und ich bin. 
überzeugt, daß auch bei den andern Parteien im stillen mancher sein wird, 
der sich von der Gerechtigkeit und Notwendigkeit der geheimen Wahl über- 
zeugt hat. (Sehr wahr! links.) Auch Windthorst, der ursprünglich ein 
Anhänger der öffentlichen Wahl war, ist später aus einem Saulus ein 
Paulus geworden. Ueber das direkte Wahlrecht will ich nicht weiter 
sprechen. Mit dem Fall des indirekten Wahlrechts werden Sie wohl fast 
durchweg einverstanden sein. Die Ansicht von der Unreife der großen 
Massen, die durch einzelne verständige Männer auf den rechten Weg ge- 
bracht wird, ist heute doch absolut unhaltbar geworden. Die oldenburgische 
Regierung hat in ihrer Begründung der direkten Wahl gesagt, daß die 
Wahlmänner heute ja doch Zettelträger seien, jeder Wahlmann geht heute 
mit einem kategorischen Imperativ in die Wahl. Die Wähler haben sich 
schon lange vorher über den Kandidaten geeinigt. (Sehr wahr!) Nun 
hält man uns entgegen, daß unser Antrag keine Aussicht auf Annahme 
habe, und wir unrecht hätten, uns darauf zu versteifen. Aber wir sind 
überzeugt, daß ein anderes, besseres Wahlrecht für unsere Verhältnisse nicht 
zu finden ist. (Sehr wahr! bei den Freisinnigen.) Bismarck hat bei der 
Einführung des Reichstagswahlrechts gesagt, daß ihm niemand ein anderes, 
von Mängeln freieres Wahlrecht habe nennen können. Der Kaiser von 
Oesterreich, der auf eine 60jährige an Stürmen und traurigen Ereignissen 
reiche Regierungszeit zurückblickt, hat das allgemeine Wahlrecht für not- 
wendig und unvermeidbar erklärt. In Süddeutschland hat eine große 
Anzahl von Einzelstaaten das allgemeine gleiche Wahlrecht in den letzten 
Jahren zur Durchführung gebracht. Um so mehr böses Blut hat die 
Aeußerung des Reichskanzlers erregt, daß das Reichstagswahlrecht mit 
dem Staatswohl Preußens nicht verträglich sei. Was ist denn das Staats- 
wohl Preußens anders als das Staatswohl im Reiche? Man verweist auf 
den Unterschied der direkten und indirekten Besteuerung. Aber es ist ja 
derselbe Mensch, der in Preußen die direkten und dem Reiche die indirekten 
Steuern zahlt, und da jetzt das Reich zu den direkten Steuern greifen muß, 
wird der Unterschied schon ohnedies ganz hinfällig. (Sehr wahrl links.) 
Dann soll die allgemeine Wehrpflicht das Wahlrecht bestimmen. Die all- 
gemeine Wehrpflicht ist doch aber eine preußische Erfindung? Ebenso ist 
es mit der Schulpflicht. Ich meine also: es ist ein Phantom; man kann 
die Berschiedenheit der Interessen gar nicht trennen. 
Wir stehen nach wie vor auf unserm Antrag. Das Wahlrecht kann 
nicht etappenweise verbessert werden. Wenn wir bedenken, daß bis zum 
ersten Gedanken an Verbesserungen beinahe 50 Jahre vergangen sind, 
dann möchte ich einmal sehen, was es helfen soll, wenn wir eine schein- 
bare Verbesserung erhalten. Wenn ein weiterer Schritt gefordert wird, 
wird man uns sagen: ihr seid unersättlich. Das Wahlsystem muß geordnet 
werden im ganzen und definitiv! Wir leben in einer ernsten Zeit, was 
soll uns geboten werden? Höchstens ein Pluralwahlrecht! Wir werden 
sehen, wie es in Sachsen wirkt. Seine Aufnahme dort ist nicht freundlich 
gewesen. Es ist nur ein anderes Klassenwahlrecht. Es sind nur zur Ver- 
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