Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das NVeufsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 26.) 41 
ausgeübt wird, als einen geradezu moralischen Schaden, einen Krebsschaden 
für die Nation. (Sehr richtig! links.) Gerade die Parteien, welche für 
die volle Freiheit der Persönlichkeit eintreten, hätten ein Interesse daran, 
von dieser Waffe des Boykotts und des Terrorismus keinen Gebrauch zu 
machen, denn wenn sie umgekehrt verfahren, bezeugen sie damit, daß sie 
die für sich geforderte Freiheit den andern nicht zugestehen wollen und 
eigentlich selbst für die bürgerliche Freiheit noch nicht reif sind. (Sehr 
richtig!) Aber auch der Druck von oben ist heute noch immer in gewissem 
Umfange zu konstatieren. Die Regierung hat erklärt, daß die Organe der 
Staatsgewalt sich bei den Wahlen durchaus neutral verhalten sollen. Ich 
zweifle nicht an der Loyalität dieser Erklärung, aber es hat sich auch ge- 
zeigt, daß der energische Wille der Zentralstelle sich nicht immer bis auf 
die untern Instanzen durchsetzen konnte. (Sehr richtig!) Ich erinnere an 
gewisse Vorgänge in Memel--Heydekrug, wo die Agitation geradezu im 
Landratsamt gemacht wurde, wo es gewissermaßen das Lokal des Wahl- 
komitees ersetzte. Ich erinnere an einen Fall im Hannoverschen, wo ein 
Ortsvorsteher die Wahlmänner, die für den nationalliberalen Kandidaten 
gestimmt hatten, öffentlich an sein Haus anschlagen ließ und aufforderte, 
soweit sie Geschäftsleute waren, bei ihnen nicht mehr zu kaufen. Die 
Waffe des Boykotts wird also nicht nur auf sozialdemokratischer Seite ge- 
übt. (Abg. Hoffmann (Soz.]: Wir haben es von Ihnen gelernt!) Sie 
haben Ihre Lehrer allerdings weit übertroffen. (Sehr gut! Heiterkeit.) 
Dort sind es immer nur einzelne Fälle, die zu verurteilen sind, Sie machen 
das aber en gros, geschäftsmäßig. (Heiterkeit.) Das ist der Vorwurf, den 
wir Ihnen machen. 
In der Frage der politischen Betätigung der Beamten kann 
ich die Ausführungen des Ministerpräsidenten nur billigen. Auch wir 
halten das eigentlich für selbstverständlich, daß die politischen Beamten, 
soweit sie in die Lage kommen, sich politisch zu betätigen, nur diejenige 
Politik vertreten können, die der leitende Staatsmann oder das Staats- 
ministerium vertreten. Ich begreife es eigentlich nicht, wie gerade diese 
Ausführungen des Ministerpräsidenten auf der konservativen Seite so leb- 
haften Widerspruch hervorgerufen haben. Man sollte eigentlich meinen, 
daß das auch die Auffassung konservativer Männer ist, denn wenn einmal 
ein liberaler Beamter die Grenzen überschritten hatte, die ihm durch sein 
Amt gezogen waren, und er in Disziplinaruntersuchung genommen oder 
in ähnlicher Weise von oben herab belehrt wurde, dann waren die Kon- 
servativen die allerersten, die das mit einem gewissen Jubel begrüßt haben, 
und eine solche Maßregelung im Interesse der Disziplin für notwendig 
erklärten. (Sehr richtig! links.) Wenn die Herren diesen Standpunkt gegen- 
über liberalen Beamten, die vielleicht hier und da über die Schnur ge- 
hauen haben, einnehmen, so mußten sie ihn erst recht da einnehmen, wo 
es sich um Beamte ihrer eigenen Parteirichtung handelte. Im übrigen 
gebe ich zu, daß die Grenze zwischen persönlicher und politischer Betätigung 
flüssig ist und daß es im großen und ganzen für den einzelnen Beamten 
wohl Sache des Taktes sein mag, wie er sich damit abfindet. Von diesem 
Gesichtspunkt aus betrachte ich es als eine Sache des Taktes, wenn nach 
einer Zeitungsnotiz in der westpreußischen konservativen Provinzialversamm- 
lung der Oberpräsident anwesend war, obgleich es sich in dieser Versamm- 
lung um eine sehr scharfe Stellungnahme gegenüber dem leitenden Staats- 
manne handelte. (Hört, hört! links.) Es ist Sache des Taktes, wie sich 
der Oberpräsident hiermit abfinden will. 
Der dritte Punkt unseres Antrages betrifft die Wahlkreiseinteilung. 
Der entsprechende Teil des freisinnigen Antrages kann doch zu erheblichen
	        
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