Das Verische Reich und seine einzelnen Glieder. (April 7.) 129
Angelegenheiten Dank wissen für die außergewöhnliche Hingebung und den
Geist der Versöhnlichkeit, womit er die Londoner Botschafterbesprechungen
geleitet und immer wieder Gegensätze zu vermitteln verstanden hat. Deutsch-
land nimmt an diesem Dank um so willigeren Anteil, als wir uns mit den
Zielen der englischen Politik eins gewußt und treu zu unseren Bundes-
genossen stehend in demselben Sinne gearbeitet haben. (Beifall.) Sir
Edward Grey hat unlängst im englischen Unterhause die Ergebnisse der
Londoner Botschafterkonferenz der Oeffentlichkeit bekannt gegeben. Diese
Darlegungen können als die Grundlage für die Behandlung der orientalischen
Angelegenheit angesehen werden, über die die Mächte sich geeinigt haben.
Es handelt sich jetzt darum, den Entschließungen der Mächte unter allen
Umständen Geltung zu verschaffen. Wir sind entschlossen, auf das energischste
hierin mitzuwirken. Man hätte erwarten können, daß der Fall von
Adrianopel die Wiederherstellung des Friedens auf dem Balkan beschleunigen
würde. Das ist leider nicht der Fall gewesen. Die Türkei hat die ihr
von den Mächten unterbreiteten Vorschläge für den Friedensschluß akzeptiert,
die Antwort der Balkanstaaten ist dagegen erst vorgestern eingegangen.
Sie unterliegt gegenwärtig der Beschlußfassung der Gesamtheit der Groß-
mächte. Ich enthalte mich noch heute, nähere Ausführungen darüber, auch
gegenüber dem herausfordernden Widerstande Montenegros, zu machen.
Hier kommt es vor allem darauf an, daß das bisherige Zusammenarbeiten
der Großmächte auch weiter standhält. An der Flottendemonstration be-
teiligen sich sämtliche Großmächte, außer Rußland, das aber die Aktion an
sich sanktioniert hat. Die Londoner Beschlüsse müssen schleunigst und mit
allem Nachdruck durchgeführt werden, dann werden auch die bisher noch
ungelösten Fragen eine friedliche Erledigung finden. Aber die Behutsamkeit
und Vorsicht, mit der die Londoner Verhandlungen geführt werden, die
Haltung, welche die Großmächte gegenüber den kriegführenden Parteien und
diese gegenüber den Großmächten einnehmen, zeigen doch sehr eingehend,
wie nahe und empfindlich die Vorgänge auf dem Balkan das Verhältnis
unter den Großmächten nicht nur berühren, sondern auch verhängnisvoll
stören können. Bis jetzt ist es vor allem die Abgrenzung von Albanien
gewesen, die Interessengegensätze zwischen einem Teil der Großmächte hervor-
treten ließ. Für die Zukunft ist entscheidend, daß an die Stelle der
europäischen Türkei mit ihrem passiv gewordenen staatlichen Leben, Staaten
getreten sind, die eine ganz außergewöhnliche Lebenskraft dokumentieren.
Wir alle haben ein dringendes Interesse daran, daß sich die Kräfte in der
Friedensarbeit ebenso bewähren, wie sie es im Kriege getan haben, und
daß die Balkanländer einer Epoche wirtschaftlichen Aufblühens entgegen-
gehen im wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhang mit ihren Nach-
barn und der Gesamtheit der europäischen Staaten. Dann werden auch
sie ein Faktor des Fortschritts und des europäischen Friedens sein. Trotz-
dem bleibt eins unzweifelhaft, sollte es einmal zu einer europäischen Kon-
flagration kommen, die Slawen und Germanen einander gegen-
überstellt, so bedeutet es für die Germanen einen Nachteil, daß eine
Stelle im System der Gegengewichte, welche bisher von der europäischen
Türkei eingenommen wurde, jetzt zum Teil von südflawischen Staaten be
setzt worden ist. Diese Verschiebung der gegenwärtigen politischen Situation
auf dem Festlande hat sich scit längerer Zeit vorbereitet. Zetzt, wo sie in
einem unerwartet großen Umfange eingetreten ist, würden wir gewissenlos
handeln, wenn wir nicht die Konsequenzen daraus ziehen wollten. Jch
sage nicht, daß ein Zusammenstoß zwischen dem Slawen= und Germanen=
tum unvermeidlich sei, aber leider behaupten das manche Publizisten. Das
ist ein gefährliches Unternehmen. Solche Thesen wirken durch ihre Schlag-
Europäischer Geschichtskalender. LIV. 9