Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 7.) 139
materiellen Lasten wird dem Volke auferlegt nach 42jährigem Frieden.
Wie ich mich zu der Heeresvorlage schließlich stellen werde, kann ich jetzt
noch nicht sagen. Wir hätten erwartet, daß der Kriegsminister etwas ein-
gehender über die Vorlage sprechen würde, um uns die Notwendigkeit
klarzulegen. Das ist leider ausgeblieben. Der Reichskanzler hat uns eine
Schilderung der internationalen Lage gegeben. Der Reichskanzler sieht
die Lage zwar als ernst an, aber doch nicht so, daß ein Krieg nahe bevor-
stände. Richtig ist, daß wir manche heftige Erschütterungen in den letzten
Jahren haben durchmachen müssen. Wir dürfen weiter nicht vergessen,
daß fast alle Völker in den letzten Jahren stark gerüstet haben, vor allem
auch Rußland. Bemerkenswert war, daß der Reichskanzler die russische
Regierung in Gegensatz stellte zu dem russischen Volk. Aber die Freund-
schaft mit Rußland wird sofort aufhören, wenn Frankreich mit uns in
einen Krieg eintreten sollte, denn dann ist Rußland zur Gefolgschaft ge-
zwungen. Frankreich rüstet ebenso wie Rußland fortgesetzt, und es geht
jetzt sogar dazu über, die dreijährige Dienstzeit wieder einzuführen und
zwar ist der Beschluß gefaßt vor unserer Heeresvorlage. Frankreich rüstet
vor allem auch stark an unserer Grenze. Dem Reichskanzler können wir
zustimmen, daß sich die Machtverhältnisse zu unseren Ungunsten verschoben
haben durch das Ausscheiden der Türkei aus Europa. Diese Schwächung
unserer Kräfte ist zweifellos. Italien ist zudem noch verpflichtet, einen Teil
seiner Kräfte in Tripolis zu halten. Von Oesterreich werden große Truppen-
mengen festgehalten werden durch den Balkanbund. Oesterreich muß seine
Grenze jetzt sichern gegenüber den erstarkten Balkanstaaten. An dieser Ver-
schiebung dürfen wir nicht vorübergehen und müssen prüfen, was wir zu
tun haben, um unsere Grenze gesichert zu finden. Solange andere Staaten
starke Heere unterhalten, können wir nicht mit der Abrüstung beginnen
und können wir auch nicht dazu übergehen, das von der Sozialdemokratie
gepriesene Milizheer einzuführen. Die Vorlage betont vor allem, daß es
notwendig sei, den Grundgedanken der allgemeinen Wehrpflicht durch-
zuführen. Diese allgemeine Wehrpflicht haben wir darin zu sehen, daß
1 Prozent unseres Volkes unter Waffen steht. Dieses eine Prozent wird
jetzt überschritten und zwar zum Nachteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung,
die stärker herangezogen wird. Der Erfolg der allgemeinen Wehrpflicht
hängt von ihrer guten Durchführung ab. Die landwirtschaftlichen Kreise,
die am stärksten betroffen werden, haben auch die größte Geburtenziffer im
Lande. Die Ausbildung des Heeres in den Einheiten muß gut sein, die
Einheiten müssen untereinander freundschaftlicher verkehren und auch das
Verhältnis der Offiziere zu den Soldaten muß dauernd gut sein, damit
das Vertrauen gestärkt wird. Das Deutsche Reich hat 42 Jahre lang in
Frieden eine gute und glänzende! Entwicklung durchmachen können.
Abg. v. Liebert (Rp.): Ich beglückwünsche den Reichskanzler und
die Heeresverwaltung zu der großen Tat der Mehrvorlage. Gegenüber
den Heeresvorlagen von 1911 und 1912 ist dies wieder eine große, ernste
Tat. Wir füllen endlich die Rüstungslücken aus. Wir führen jetzt endlich
das große Vermächtnis der Zeit vor 100 Jahren, die allgemeine Wehrpslicht,
aus. Ich bedaure nur, daß die Vorlage nicht bereits vor 112 Jahren kam.
Hätten wir vor 1½ Jahren das heutige getan, so wäre manches besser ge-
worden. Die Abweichungen von der Bismarckschen Politik haben dem Volke
die heutigen Rüstungskosten auferlegt. Die Aufgabe des Rückversicherungs-
vertrages war die erste Ursache. Die große Slawenwelle schwillt immer
mehr an. Im Jahrzehnt 1901—10 sind die Rüstungen stark gewachsen.
Der Dreibund hat 15, der Dreiverband aber 25 Milliarden ausgegeben,
wir müssen also weiter rüsten. Herr Wendel hat jüngst in Frankfurt a. M.