Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

142 Das Verische Reich und seine einzelnen Glieder. (April 7.) 
im Rate der Völker gehört und beachtet wird. Ein nicht genügend gerüstetes 
Reich würde nicht einen genügenden Einfluß und Nachdruck ausüben können, 
wenn es sich um politische und wirtschaftspolitische Vorgänge in anderen 
Staaten handelt. Es ist leider wahr, daß unser westlicher Nachbar noch 
immer nicht von unseren friedlichen und guten Absichten überzeugt ist. Wir 
können wohl verstehen, daß ein Volk, das jahrhundertelang die politische 
Führung in Europa hatte, sich nicht so schnell, in einem Menschenalter daran 
gewöhnen kann, daß die Führung auf politischem, wirtschaftlichem und 
anderen Gebieten an ein anderes Volk übergegangen ist. Aber wir können 
aus reiner Nachbarschaft zu unserem westlichen Nachbar von dem deutschen 
Vordringen auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet nicht zurückstehen. 
Wir müssen das tun, weil unser Volk wächst und jährlich 750000 Deutsche 
mehr mit Arbeit und Brot zu befriedigen sind. Auch die in den letzten 
Jahren hervortretende nationale und wirtschaftliche Erstarkung der östlichen 
Völker droht mit einem Vordringen nach dem Westen. Dem Deutschen 
Reiche wird die Aufgabe zufallen, durch seine friedliebende, aber starke 
Machtstellung diese Wetterwolke am politischen Himmel zu zerstreuen. Der 
Zusammenbruch der Türkei hat zweifellos viel dazu beigetragen, daß die 
politischen Machtverhältnisse in unserem Verhältnis zu den slawischen Völkern 
sich erheblich verschoben haben. Ich will darauf nicht näher eingehen, weil 
dies bereits sowohl durch den Herrn Reichskanzler wie auch von einigen 
der Herren Vorredner dargelegt worden ist. Für unser Reich, als die ger- 
manische Vormacht, ergeben sich daraus die Folgen, die in der Wehrvorlage 
ihren notwendigen Niederschlag fanden. Also zusammenfassend: sowohl 
unser weltwirtschaftliches Vordringen wie auch die nationalen Strömungen 
in anderen Völkern sind für unsere Stellung unter den Völkern Faktoren 
von außerordentlicher Bedeutung. Soll also Deutschland auch in fernerer 
Zeit ein Staat friedlichen Bürgerfleißes, ein Hort des Friedens sein — und 
das wünschen wir —, dann müssen unser Heer und unsere Flotte stark 
und schlagfertig bleiben. Die Ausführungen des Herrn Reichskanzlers haben 
wir mit Befriedigung gehört; wir stimmen ihm in allen wesentlichen Punkten 
zu. Wir billigen insbesondere seine Politik, die in der kritischen Balkan- 
frage in unbedingter Treue zu unseren Verbündeten der friedlichen Ver- 
ständigung der Mächte diente, ohne darüber die deutschen Interessen aus 
dem Auge zu lassen. In einem Punkte, wenn ich auch im wesentlichen mit 
meinem Herrn Vorredner, dem Abg. v. Liebert, übereinstimme, möchte ich 
ihm doch widersprechen. Er meinte, der liebe Gott sei immer mit den 
meisten und größten Bataillonen gewesen. Dieser Standpunkt ist meines 
Erachtens vor der Geschichte nicht haltbar. Nicht die größten und meisten 
Bataillone entscheiden allein, sondern der Geist, der in Heer und Volk vor- 
handen ist, ist mindestens ebenso wichtig, ja er entscheidet. Darum gehört 
zur Wehrfähigkeit unseres Volkes nicht nur eine starke Waffenmacht, sondern 
es gehört dazu vor allen Dingen auch der rechte Geist der Gottesfurcht, 
der Vaterlandsliebe und der Opferfreudigkeit. Manche Erscheinungen auf 
sittlichem und auf anderen Gebieten in unserem Volksleben — ich denke 
nur an die großstädtische Ueberkultur, an den Geburtenrückgang usw. — 
lassen doch ein nicht ganz befriedigendes Bild in unserem Volke sicht- 
bar werden. Die Abkehr vom mammonistischen und materialistischen 
Geist unserer Zeit, eine moralische Erneuerung unseres Volksgeistes ist 
zweifellos ebenso erforderlich wie die Heeresvorlage. Diese Erneuerung 
des Volksgeistes soll nicht im Sinne des Herrn Abg. Haase, im Sinne 
des Antimilitarismus erfolgen, sondern nach unserer Auffassung im Sinne 
christlich-nationaler Lebensanschauung, der Vaterlandsliebe und der Opfer- 
freudigkeit.
	        
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