Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.) 149 
sich selbst in solcher Weise desavouieren zu müssen, sich sagen zu lassen: 
entweder du hast voriges Jahr und im Jahre 1911 deine Pflicht nicht 
getan, oder es wird jetzt eine Politik ad hoc gemacht, es wird die Not 
und Gefahr zu arg unterstrichen, um diese Vorlage unter allen Umständen 
durch zusetzen. So ist doch tatsächlich die politische Situation! (Lebhafte 
Zustimmung bei der Fortschr. Vp.) Gewiß, die großen Nova auf dem Ge- 
biete der auswärtigen Politik: der Brand im Südosten, die Türkei zer- 
schmettert, der Balkanbund politisch und militärisch ein neuer Faktor, die 
Tripolisexpositur Italiens, die gefährliche Slawisierung Oesterreich-Ungarns, 
— alles das sind Dinge, deren militärpolitische Tragweite wir in der 
Budgetkommission noch sehr eingehend behandeln müssen. Aber das kann 
doch niemand bestreiten, daß die Haupttatsachen, die staunenswerte Neu- 
organisation Rußlands, von der gestern der Herr Reichskanzler sprach, das 
Kadergesetz Frankreichs vom Jahre 1912, die Slawisierung Oesterreichs, 
die Folgen der Tripolisexpedition im Frühjahr 1912 bereits vollkommen 
bekannt waren und bei unseren Verhandlungen in der Budgetkommission, 
wie ich als Zeuge selbst sagen kann, eine sehr große Rolle gespielt haben. 
Freilich, das kann nicht geleugnet werden: die Militärverwaltung hat sich 
von den Ereignissen im Südosten Europas völlig überraschen 
lassen; ihre Militärattaches haben wieder eine völlige Ahnungslosigkeit be- 
wiesen. Wie hat man die Schlagkraft der türkischen Armee überschätzt, und 
wie hat man die große aktive Lebenskraft bei den Balkanstaaten, von der 
gestern der Herr Reichskanzler sprach, ebenso unterschätzt! Man hat die 
Kriegsrüstungen, die von langer Hand von den Balkanstaaten vorbereitet 
waren — ein Zeugnis dafür ist die vorzügliche Verproviantierung der 
bulgarischen Armee —, gänzlich ignoriert, obwohl bekannt ist, daß die 
deutsche Regierung gewarnt und darauf aufmerksam gemacht worden ist, 
was im Südosten vorginge. Das alles ist ein schweres Schuldkonto nicht 
bloß der Militärverwaltung, sondern auch der diplomatischen Vertretung 
Deutschlands. (Sehr richtig!) Es wird Sache einer klugen Diplomatie sein 
(Zuruf l.) — einer klügeren Diplomatie, hätte ich beinahe gesagt —, mit 
den „Staaten mit einer so aktiven Lebenskraft“ ein wirklich gutes, freund- 
schaftliches Verhältnis herzustellen, damit sie in dem auch von dem Herrn 
Reichskanzler bezeichneten Sinne „Faktoren des Fortschritts“ für die all- 
gemeine Kultur Europas werden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit doch auch 
mit aller Schärfe die wenig taktvolle Bemerkung des freikonservativen Redners 
von gestern zurückweisen, wenn er sprach von „fremden Elementen“, die 
unserem Offizierkorps ferngehalten werden müßten. Ich meine, daß 
das hier im deutschen Parlament eine ganz ungeheuerliche Bemerkung ist. 
Diese „fremden Elemente“ können Sie wohl brauchen, nicht bloß, wenn 
sie zu wohltätigen Zwecken beitragen sollen, sondern auch vor allen Dingen, 
wenn sie die Deckung dieser Vorlage schaffen sollen! Ich meine, das war 
eine wenig taktvolle Bemerkung: und ich hoffe, daß derartige Ausführungen 
in Zukunft vermieden werden. Ich meine, es wäre endlich Pflicht der 
Militärverwaltung, gerade bei einer solchen ungeheuerlichen neuen Militär- 
vorlage uns auch auf der anderen Seite Ersparungen zu zeigen. Dieses 
Ersparungskapitel wird von uns auch wieder in der Budgelkommission sorg- 
fältig behandelt werden müssen. Ich will nur auf eins hinweisen: es magq 
kleinlich erscheinen, aber die Herren glauben ja gar nicht, wie gerade der- 
artige kleine Dinge draußen im Sinne der äußersten Linken wirken. War 
es denn absolut notwendig, daß z. B. die Rathenower Husaren zum Em- 
pfang des Prinzen von Cumberland hier herangezogen werden mußten? 
Hätte es denn nicht auch getan, daß man die hiesigen Garderegimenter 
hätte ausrücken lassen? Warum macht man mit derartigen Dingen der
	        
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