Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.) 153
Abg. Erzberger (Z.): Der Herr Vorredner kann nicht leugnen,
daß durch die Umgestaltung auf dem Balkan und durch die Bindung
Italiens in Nordafrika eine Schwächung unserer Dreibundgenossen
eingetreten ist. Er leugnet nur den Umfang einer solchen Schwächung.
Er kann nicht leugnen, daß in einem Ernstfall das uns verbündete Oester-
reich-Ungarn seine ganze Stoßkraft uns nicht so zur Verfügung stellen
kann, als wenn die Türkei in ihrem alten Umfang noch aufrecht erhalten
geblieben wäre. Aber das ist nicht einmal für mich das Entscheidende.
Ich will ohne weiteres zugeben, daß die Veränderungen auf dem Balkan
vielleicht nicht in dem Maße für die Begründung der Wehrvorlage ins
Feld geführt werden können, wie es die Motive tun; denn derzeit sind die
Balkanstaaten doch in einer Ohnmacht, so daß man nicht sagen kann, daß
unser Bundesfreund viel von ihnen zu fürchten hätte. Man könnte nach
zwei oder drei oder vier Jahren oder noch später diese Tatsache als Be-
gründung einer Militärvorlage anführen. Ich glaube vielmehr, die Be-
gründung der Militärvorlage ist lediglich zu suchen in dem Verhalten
unseres östlichen und unseres westlichen Nachbarn. Dann kann ich aller-
dings der optimistischen Auffassung des Herrn Vorredners, die er über
Frankreich zum Ausdruck gebracht hat, nicht zustimmen. Im Gegenteil;
es wird niemand, der die französischen Volksstimmungen irgendwie kennt, in
Abrede stellen wollen, daß im Lauf der letzten Jahre, nicht in den Kreisen
der verantwortlichen Regierung — da stimme ich dem Herrn Reichskanzler
bei —, aber in den breitesten Volkskreisen der chauvinistische Geist ganz
gewaltig angewachsen und emporgepeitscht worden ist. Es läßt sich nament-
lich nicht leugnen, das seit der Rede von Karlsruhe im Jahre 1905 mit
nicht daran anschließenden Taten der Respekt vor der deutschen Wehrmacht
in unserm westlichen Nachbarlande gewaltig gesunken ist.
Ganz dasselbe trifft für das Anwachsen der militaristischen Strömungen
in England zu. Herr Scheidemann scheint seine eigene Presse nicht zu
kennen. Noch am 19. März d. J. hat der „Vorwärts“ einen sehr inter-
essanten Artikel gebracht, in dem er unter der Ueberschrift: „Das Treiben
der englischen Militaristen“ darlegte, wie von der unionistischen Partei,
seitdem sie den Zolltarifkampf in den Hintergrund stellte, systematisch die
Frage der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in den Vordergrund
gedrängt wird. An allen diesen Erscheinungen können wir im Deutschen
Reiche noch nicht achtlos vorübergehen. Die denkbar friedliebendsten
Kollegen, die wir unter uns hatten, haben zum Ausdruck gebracht, daß
Rußland uns in späteren Jahren viel mehr zu schaffen geben wird, mehr
als jemand anders. Es war der alte Liebknecht und der alte Bebel, die
schon vor 22 Jahren, im Jahre 1890 und 1893, dies offen ausgesprochen
haben. Haben sich nun vielleicht seit 1893 die Verhältnisse in Rußland
in einem für Deutschland günstigeren Sinne entwickelt? Das wird doch
wahrhaftig niemand behaupten wollen. Im Gegenteil, es ließe sich eine
ganze Menge von Tatsachen anführen, daß dieses Verhältnis noch ver-
schlechtert worden ist. Zunächst hat Rußland ganz kolossal gerüstet, auch
im letzten Jahre gerüstet —, eine Tatsache, die bisher in den Verhand-
lungen noch gar nicht zum Ausdruck gekommen ist. Ich weise auf die
„Internationale Revue der gesamten Armeen und Flotten“ hin, die in
einem Rückblick für 1912 über Rußland schreibt: „Das wichtigste Gesetz,
das der russischen Armee im Jahre 1912 übergeben worden ist, betrifft die
allgemeine Wehrpflicht. Es hat ja lange Zeit gedauert, bis die Regierung
sich zu diesen neuen Bestimmungen durchgerungen hat. Aber wenn ihre
heilsame Wirkung nunmehr keinen Ausschub erleidet, kann Rußland einer
neuen militärischen Aera entgegensehen". Wird diese allgemeine Wehr-