Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

154 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.) 
pflicht, die ja schon im Mai 1874 — der Herr Kollege Ledebour hat mal 
in der „Neuen Zeit“ darauf aufmerksam gemacht — eingeführt, aber nicht 
durchgeführt worden ist — sie stand auf dem Papier —, jetzt im Jahre 1912 
durchgeführt, dann ist es selbstverständlich, daß dieses unermeßliche Reich, 
das heute schon 90 oder nahezu 100 Millionen Köpfe mehr zählt als unser 
eigenes deutsches Vaterland, mit Hilfe der allgemeinen Wehrpflicht ganz 
neue fabelhafte Reserven heranziehen kann, sofern es genügend Geld besitzt. 
Selbstverständlich können wir in ein Wettrüsten mit Rußland darum nicht 
eintreten; aber wir dürfen die werdende, kommende, in einigen Jahren 
sich tatsächlich verwirklichende Gefahr doch nicht als nicht vorhanden an- 
sehen und mit geschlossenen Augen an ihr vorübergehen. Dazu kommt, 
daß in Rußland infolge der panslawistischen Bewegung, die nicht so leicht- 
hin abzutun ist, wie die Herren Sozialdemokraten es in diesen Debatten 
getan haben, die Abneigung gegen Deutschland von Jahr zu Jahr wächst. 
Es war mir sehr interessant — wenn man Ihre Parteiliteratur durchliest, 
findet man ja ab und zu sehr vernünftige Anschauungen über dieses Ge- 
biet; nur im Reichstag kommen sie nicht zum Ausdruck — absolut nicht! —, 
daß einer Ihrer ganz Radikalen, ein Herr Hilferding, gewiß ein ganz 
radikaler Herr, in der „Neuen Zeit“ vom 18. Oktober 1912, also längst 
vor unserer Vorlage, den sehr richtigen Satz schreibt: „Nun droht Rußland 
allerdings die Gefahr innerer Umwälzungen. Aber anderseits bedeutet der 
Balkankrieg die Entfesselung aller nationalistischen Instinkte, die heute auch 
im russischen expansionslüstern gewordenen Bürgertum ganz anders lebendig 
geworden sind als vor der Revolution, und auch für die russische Regierung 
kann ein Zeitpunkt eintreten, wo sie auch gegen ihren Willen in einen 
Krieg hineingerissen wird, der für sie allerdings zu früh gekommen sein 
mag.“ Ich könnte noch eine Menge anderer Erscheinungen in Rußland 
anführen. Ich bin nicht so naiv, anzunehmen, daß Monsieur Delcassé, der 
die französische Republik in Petersburg vertritt, nun auch auf ein ganz 
besonders freundschaftliches Verhalten gegen Deutschland hinwirkt. Ich will 
nur Negatives sagen, weil ich nicht weiß, was Herr Delrasse Positives tut. 
Aber auf eine andere Erscheinung möchte ich hinweisen. Es war doch 
mehr als auffallend für Deutschland, daß der Abschluß des Vertrages von 
Kalisch, der Beginn der Erhebung Preußens, in Rußland von allen maß- 
gebenden Stellen, auch von der Regierung vollständig ignoriert worden ist, 
während dagegen die französische Niederlage von Borodino sogar unter 
französischer Anteilnahme gefeiert worden ist. Wenn man irgendetwas zum 
Ausdruck bringen wollte, dann sollte man meinen, daß die Erinnerung an 
die gemeinsamen Kämpfe vor hundert Jahren gegen den gemeinsamen Feind 
die Begeisterung gegenüber der verbündeten Nation mindestens etwas ab- 
kühlen sollte. Aber wir finden nicht die Spur von Erinnerung in der 
ganzen russischen Presse an alle diese Vorgänge vor hundert Jahren. Ich 
könnte auch hinweisen auf eine Menge neuer Erscheinungen, neuer Maß- 
nahmen in der russischen Armee, die alle einen Endzweck haben: das Heer 
schneller zu mobilisieren. Früher wußte man, daß die russische Mobil- 
machung sich langsam vollzogen, vielleicht zwei bis drei Monate gebraucht 
hat. Durch die neuen Organisationen, die man in dem Etat genau ver- 
folgen kann und die auch in den Militärzeitschriften immer wieder vor- 
getragen werden, ist jedem, der sich mit den Dingen befaßt, bekannt, daß 
Rußland seine Mobilmachung mindestens vier bis sechs Wochen früher ab- 
geschlossen haben wird. Also der frühere Vorsprung, den eine deutsche 
Armee bei einem Kampfe nach zwei Fronten hatte und der so weit zu 
denken war, daß wir nach zwei Seiten Sieger werden konnten, ist durch 
diese Vorschnellung der russischen Mobilmachung um vier bis sechs Wochen
	        
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