Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

172 Das Dentsqhe Reich und seine einzelnen Glieder. (April 10.) 
werker usw. es aus Ungeschick unterlassen haben, ein Testament zu errichten, 
also Leute, die, wenn sie rechtzeitig daran gedacht hätten und vorsichtig 
gewesen wären, ihr kleines Vermögen voraussichtlich wohltätigen Stiftungen 
usw. zugewendet hätten. Daß einer von diesen Leuten sein vielfach sauer 
erspartes kleines Besitztum an den Staat hätte fallen lassen wollen, daß 
einer den Fiskus als Erben eingesetzt hätte, wenn er ein Testament er- 
richtet hätte, das glaubt doch wohl niemand. Aehnlich wie in Bayern 
werden die Dinge ja auch wohl in den übrigen Bundesstaaten liegen. In 
der Kommission werden uns darüber vielleicht die statistischen Ziffern gegeben 
werden können. Die Heeresvorlage erscheint meinen Freunden als eine 
nationale Notwendigkeit, wenn nachgewiesen wird, daß ohne sie ein 
genügender Schutz des Vaterlandes und die Erhaltung des Friedens nicht 
sichergestellt ist. Ihre Ablehnung oder Verzögerung würde in diesem Falle 
eine schwere Verantwortung für die Volksvertretung mit sich bringen. Und 
diese harte Notwendigkeit, vor die wir uns gestellt sehen, und nicht ein 
hurrapatriotischer Begeisterungstaumel, wird für unsere Haltung gegenüber 
diesen Vorlagen maßgebend sein. Daraus ergibt sich aber für uns auch 
die Pflicht, sowohl die Heeres- wie die Deckungsvorlagen einer genauen 
Prüfung zu unterstellen. In dem Augenblick, in dem so kolossale Opfer 
persönlicher und finanzieller Natur dem deutschen Volk angesonnen werden, 
ergibt sich für den Reichstag aber auch die weitere Pflicht, zu prüfen, ob 
bei Verteilung der Lasten in richtiger Weise vorgegangen ist, und ob die 
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des einzelnen in den Steuervorlagen ge- 
nügende Rücksicht gefunden hat. 
Abg. Dr. Paasche (Nl.): Der Herr Staatssekretär des Reichsschatz- 
amts hat gestern mit Recht ausgeführt, daß uns für solche großen, ein- 
maligen Ausgaben doch nur zwei Wege offen bleiben, zuerst eine Anleihe. 
Das war das, was wir früher gemacht haben, was wir oft in der leicht- 
fertigsten Weise gemacht haben, wo wir vor Jahrzehnten zur Beschaffung 
neuer Kanonen, Gewehre und dergleichen Anleihen ausgenommen haben, 
die uns heute noch drücken, während die damals gekauften Gewehre und 
Kanonen längst zum alten Eisen geworfen sind. Man hat die Anleihen 
gemacht und nicht getilgt, nicht amortisiert; aber die Zinsenlast drückt uns 
noch heute. Ja, für solche einmaligen Ausgaben konnte man natürlich den 
Weg der Anleihe heute vielleicht weniger ängstlich beschreiten, nachdem das 
Gesetz zur Abänderung des Finanzwesens des Reiches von 1909 wesentlich 
andere Bedingungen geschafft hat und wir neuerdings verpflichtet sind, der- 
artige nicht werbende Anleihen mit 3 Prozent und Zinseszuwachs zu amor- 
tisieren. Aber dann hätten wir für die etwas über eine Milliarde Mark 
4 Prozent Zinsen und 3 Prozent Amortisation, also jährlich etwa 70 bis 
80 Millionen Mark aus Einnahmen zu bestreiten — ein schweres Opfer, 
das uns vielleicht viel mehr Sorge machen würde als der einmalige Wehr- 
beitrag, der hier gefordert wird. Dann hat der Herr Staatssekretär mit 
vollem Recht darauf verwiesen: Wäre jetzt die Zeit die allerungünstigste, 
mit einer Milliardenanleihe an den Geldmarkt heranzutreten, in einer Zeit, 
wo der Krieg im fernen Osten entbrannt ist, wo die Unruhe und Sorge 
um die Zukunft noch heute das Wirtschaftsleben schwer bedrückt und be- 
drängt, wo die Geldverhältnisse so ungünstig sind, wie wir sie seit Jahren 
nicht gehabt haben: was würde dadurch gebessert sein, wenn wir nun wirklich 
eine Anleihe gemacht hätten mit der Verpflichtung, sie in wenigen Jahren 
mit 3 Prozent zu amortisieren, statt den zweiten Weg zu beschreiten, ein 
einmaliges großes Opfer den Besitzenden zuzumuten? Es ist doch unbestreit- 
bar, daß die Beunruhigung auf dem Geldmarkt, die heute nicht bloß die 
Börsenmänner, nicht die Banken und Großbetriebe, sondern vor allen Dingen
	        
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