182 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 12.)
vorhanden gewesen, und zum Teil dauert sie, wenn auch in sehr abgeschwächtem
Maße, immer noch an. Sie ist vorhanden in der Schwerindustrie, also im
Kohlenbergbau, in der Hüttenindustrie, im Maschinenbau, hier namentlich
wegen der enorm gesteigerten Ausfuhr infolge der hervorragenden Leistungen
unserer Ingenieure und der Tüchtigkeit unserer Maschinenarbeiter, in der
Elektrotechnik, in der chemischen Industrie, überall dort, wo die deutsche
Technik so Enormes geleistet hat, ebenso in der Schiffahrt und im Schiffs-
bau. Aber sehen Sie sich die anderen Gewerbe an, die große Menge der
Verfeinerungsindustrien. Dort geht es gar nicht gut und ist auch im Jahre 1912
nicht gut gegangen. Wenn eine Steigerung des Absatzes oder der Ausfuhr
eingetreten ist, so wird mit vollem Rechte geklagt, daß der Erlös in keinem
Einklang stehe mit den gestiegenen Produktionskosten, und daß infolgedessen
in diesen Erwerbszweigen man eher von einem Notstand als von einer
günstigen Konjunktur reden kann. Der enorm teure Geldstand hat es ihnen
unsagbar schwer gemacht, und unter den gleichen Verhältnissen leidet auch
der Warenhandel, der doch, wie die Verhältnisse einmal liegen, viel auf
Kredit angewiesen ist. Was bedeutet für ihn nicht allein diese beispiellose
Verteurung des Geldstandes! Wie schwer wird es ihm heute gemacht, sich
durchzuhelfen! Und dann, wie steht es mit dem Grundstücksmarkt und mit
dem Baugewerbe? Es ist heute bereits unmöglich, eine Hypothek auf-
zunehmen. Die Hypothekenbanken sind ganz außerstande, neue Pfandbriefe
auszugeben. Hier kommen neben der Verteurung des Geldes die Fehler
der Gesetzgebung mit dem Grundstücksumsatzstempel und der Wertzuwachs-
steuer hinzu. Der Herr Reichskanzler hat ausgeführt, daß sich in Rußland eine
staunenswerte ökonomische Entwicklung vollziehe. Ja, woher kommt das? —
Von den staunenswerten Leistungen der inneren Kolonisation, die Rußland
in den letzten Jahren vorgenommen hat! (Sehr richtig! I.) Das ist der
alleinige Grund. Rußland beschreitet in der Zeit der Reaktion denselben
Weg, den Oesterreich in der Zeit der Reaktion nach 1849 beschritten hat,
den der Minister Bach unter dem autokratischen Regiment im Widerspruch
mit der konservativen Partei mit Erfolg durchgesetzt hat, nämlich aus Oester-
reich ein Bauernland zu machen; er hat bloß zu viel Großbauern geschaffen,
Rußland hat davon gelernt und schafft mittlere und kleine Bauern; dadurch
hat es den großen Aufschwung. Eine solche Entwicklung eines Landes
schließt eigentlich aber auch eine Friedensgarantie in sich; denn je größer
die Zufriedenheit der weiten Bevölkerungsklassen dadurch wird, um so geringer
ist die Gefahr, daß die unruhigen Elemente mit Erfolg auf den Krieg
drängen. Das hat sich ja auch jetzt wieder gezeigt; das erhellt klar aus
den neuesten Veröffentlichungen des russischen Ministers des Aeußern. Bei
uns geschieht aber das Gegenteil. Eine Begünstigung des Großgrundbesitzes
führt zur Entvölkerung des flachen Landes. Auch jetzt erleben wir es wieder,
daß eine solche künstliche Begünstigung des Grundbesitzes eintreten
soll; denn er ist allein derjenige, bei dem die Einschätzung des Vermögens
nach dem Ertragswert tatsächlich zu einer Herabminderung, ja Illusorisch-
machung des Vermögens für die Steuer führt. Aber wir sollen uns doch
nicht verhehlen, daß diese Form des Wehrbeitrags, der in dieser
kolossalen Höhe in zwei Raten erhoben werden soll, volkswirtschaftlich recht
bedenklich ist. Man rechnet dasjenige, was aus dem Einkommen des deutschen
Volks an Kapital jährlich zurückgelegt wird, auf 4 bis 4½ Milliarden.
Es ist unbedingt notwendig, daß diese Kapitalsbildung stattfindet. Es ist
das unbedingt notwendig bei einem Volke, das doch eine starke Bevölke-
rungszunahme um 750000 bis 800000 Seelen im Jahre aufweist. Für
diese müssen Wohnungen geschaffen werden, müssen Fabriken, müssen Berg-
werke, Schiffe, Bahnen, Waggons, müssen all die Arbeitsstätten geschaffen