Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

188 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 12.) 
älteste Sohn fährt eben immer besser bei der Erbteilung, — das wissen 
wir. Jetzt stirbt der Inhaber, und sein Sohn, der minorenn ist, also nicht 
testieren konnte, stirbt nach ihm. Dann sind die Brüder, die vorher damit 
einverstanden waren, daß die Wirtschaft an den ältesten Sohn billiger weg- 
ging, damit er die Wirtschaft halten konnte, nicht in der Lage, den Neffen 
zu beerben. Eine solche Bestimmung darf nicht im Gesetz bleiben, so darf 
das Gesetz nicht zustande kommen. Obwohl wir an den Deckungsvorschlägen 
verschiedenes auszusetzen haben, wünschen wir dringend, daß unter den 
bürgerlichen Parteien eine baldige Einigung zustande kommt, um die be- 
absichtigten Rüstungen, die wir im Interesse des Ansehens und der Macht 
unseres Volkes und Vaterlandes für notwendig halten, möglichst schnell. 
durchführen zu können. 
Abg. Segitz (Sd.): Wenn mit dem Sparen begonnen werden soll, 
dann muß nach meiner Auffassung der Anfang von oben gemacht werden. 
War es denn nötig, die preußische Zivilliste um 3½ Millionen zu erhöhen. 
mit dem Erfolg natürlich, daß jetzt selbstverständlich auch die Gliedstaaten 
nachfolgen, um ihre Landesfürsten aufzubessern? Württemberg hat ja bereits. 
den Anfang gemacht. Ich kann mir keine Gehaltsregulierung in den Glied- 
staaten denken, bei denen die Herren Minister auf eine Aufbesserung ver- 
zichtet hätten, und ich kenne eine ganze Anzahl von pensionierten Ministern, 
die neben ihren reichlichen Pensionen als Aussichtsräte, Direktoren und in 
anderen Nebenstellen Summen verdienen, die ihre Pension um das Drei- 
und Vierfache übersteigen, ohne daß es ihnen bis jetzt eingefallen ist, auch 
nur auf eine Mark von ihren Pensionen zu verzichten. Herr Abg. Graf 
v. Posadowsky hat sich mit großer Leidenschaftlichkeit gegen das Erbrecht 
des Fiskus gewandt. Alle Argumente, die gegen das fiskalische Erbrecht 
vorgebracht werden können, hat er fleißig zusammengetragen, um eine mög- 
lichst starke Wirkung im Hause zu erzielen. Er hat der Regierung sogar 
den Vorwurf gemacht, daß sie bei der Begründung des Gesetzentwurfs über 
das Erbrecht des Staates mit sozialistischen Theorien gearbeitet habe, ob- 
wohl der vorliegende Gesetzentwurf im Vergleich zu dem Entwurf des Jahres 
1909 eine ganz erhebliche Abschwächung enthält. Aber der Herr Abg. Graf 
v. Posadowsky will der Sozialdemokratie absolut keine Konzessionen machen. 
„Widersteie dem Anfang!“ Herr Abg. Graf v. Posadowsky fürchtet die 
Konsequenzen. Er hat gesagt: wenn einmal erst der vierte Erbgang aus- 
geschlossen ist, dann wird man bei Bedarf auch den dritten Erbgang und 
schließlich auch die zweite Erbfolge ausschließen. Er hat mit Recht darauf 
hingewiesen: ein neuer Geldbedarf wird sich bald wieder einstellen, und ob 
die Herren, die jetzt die Grundlagen des Gesetzentwurfs für das Erbrecht 
des Staates vertreten, dann noch am Ruder sein werden, das ist sehr fraglich. 
Ganz meine Meinung. Aber der Herr Abg. Graf v. Posadowsky darf doch 
nicht vergessen, daß auch auf diesem Gebiete die Entwicklung nicht stillsteht, 
und am Ende der Entwicklung steht das kommunistische Manifest, das über- 
haupt die Beseitigung des Erbrechts verlangt. Der Herr Abg. Speck hat 
sich über die Rede meines Kollegen Südekum gefreut, aus der er entnommen 
hat, daß wir positiv an den Steuervorlagen der Regierung mit- 
arbeiten wollen. Wenn damit gesagt sein sollte, daß die Sozialdemokraten 
nicht auch früher an der Finanzreform mitgearbeitet haben, so muß dieser 
Vorwurf mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden. (Zustimmung bei 
den Sozialdemokraten.) Dem Herrn Kollegen Speck kann nicht unbekannt 
sein, daß meine Freunde schon im Jahre 1906 an der Stengelschen Finanz- 
reform mitgearbeitet haben, daß sie schon den damaligen Erbschaftssteuergesetz- 
entwurf durch eine Anzahl von Anträgen ergänzen wollten, die aber von 
den bürgerlichen Fraktionen mit Einschluß des Zentrums abgelehnt wurden.
	        
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