Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 14.) 193 
Silistria abgetreten werden solle, von einer berechtigten Forderung sprechen? 
Die unberechtigste Forderung von der Welt, die nur erhoben werden kann, 
ist es! Es mögen andere Teile sein — ich weiß es ja nicht —, wo ru- 
mänische Staatsangehörige oder national verwandte Elemente in Frage 
kommen. Daß denen Schutz werde, werden wir gewiß nicht bekämpfen. 
Aber was heißt denn diese Sache? Heißt das nicht, wenn man hier die 
Stadt mit der überwiegend aus Bulgaren zusammengesetzten Bevölkerung 
an Rumänien abtritt, neue Konflikte, neue Reibungen, neue Gegensätze, 
neuen Haß, neue Verfolgungen heraufbeschwören? Dagegen legen wir aufs 
allerentschiedenste Verwahrung ein. Dann heißt es — hier ist ja nichts dar- 
über gesagt worden, aber in der Presse war davon die Rede —, man will 
die Bulgaren durch Saloniki entschädigen. Ja, welchen Anspruch hat denn 
Bulgarien auf Saloniki? Gar keinen! Die Bevölkerung von Saloniki setzt 
sich zum allergeringsten Teil aus Bulgaren zusammen. Seine Bevölkerung 
von 105000 Einwohnern enthält 60000 Spaniolen, spaniolische Juden, die 
spanisch sprechen, von denen die einen Lastträger und alle möglichen Ar- 
beiter sind, andere bürgerliche Berufe haben. Das ist die Mehrheit der 
Bevölkerung. Dann sind 40000 Türken und Griechen dort, und dann noch, 
ich weiß nicht wieviel Bulgaren. Welchen Anspruch hat also Bulgarien auf 
Saloniki? Würde nicht die Besetzung von Saloniki durch Bulgarien auch 
wiederum eine Quelle endloser neuer Reibungen, Kämpfe und Rivalitäten 
sein? Wollen wir nicht, wenn wir Neuregelungen veranlassen, endgültige 
Verhältnisse schaffen, die einen wirklichen, echten Frieden in Aussicht stellen? 
Ist nicht Saloniki nach seiner ganzen Zusammensetzung und Lage wie ge- 
schaffen für einen neutralen Hafen, für einen Freihafen, für eine selbständige 
freie Stadt unter Kontrolle und Garantie der Großmächte? Sollte man 
es nicht der Rivalität und den Kämpfen zwischen den Bulgaren, Griechen 
und Rumänen entziehen? Wenn hier nicht auch wiederum der Geist der 
alten Diplomatie überwöge, die nicht nach den Völkern, die nur nach den 
Staaten und Staatsinteressen, nach den Mächten und Mächteverschiebungen 
fragt, wenn man hier auf die Völker sähe, würde man zu einer ganz anderen 
Lösung gelangen müssen. Etwas anders liegt es mit den Ansprüchen 
Serbiens auf Albanien. Die können auch wir nicht unterstützen. Ob 
Albanien imstande ist, ein eigenes Staatswesen zu werden, muß abgewartet 
werden. Aber unter serbischer Herrschaft würde es wahrscheinlich niemals 
dort zum Frieden kommen. Da ist der Haß, der zwischen Mohammedanern 
und Christen oder zwischen Slawen und Albaniern aufgespeichert ist, viel 
zu stark, er ist Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende alt. Gegen die An- 
nexion von Albanien durch Serbien sind wir nicht nur im Interesse des 
albanischen Volkes, sondern auch des serbischen Volkes selbst. Es würde 
eine ewige Wunde am serbischen Staatskörper sein. Darum stimmen wir 
dem zu, daß Albanien nicht an Serbien abgetreten wird. Aber die Augen 
Serbiens wären kaum auf Albanien gefallen, Serbien würde kaum mit 
diesem Eifer die Herrschaft von Albanien erstrebt haben, wenn man ihm 
einen Zugang zum Meer gegeben hätte, wenn Oesterreich nicht im Norden 
von Albanien und im Westen von Serbien dieses geradezu auf dem Balkan 
eingeschnürt hätte, wenn hier nicht wieder die österreichische Politik seiner 
Entwicklung entgegenstände. Wie heute auch die Lösung der serbischen Frage 
durch die Diplomatie sein mag, es wird immer Stoff zu neuen Konflikten, 
zu neuen Reibereien geben. Der Statusquo ist hier nicht die Lösung. Mit 
dem Statusquo steht es auch auf dem asiatischen Gebiete der Türkei 
nicht so, wie es den Anschein hat. Wir wünschen, daß die Türkei genügend 
gesichert werde, um sich selbst frei entwickeln zu können, um wirklich ein 
kulturelles Leben schaffen zu können und das nachzuholen, was sie in Klein- 
Europäischer Geschichtskalender. LIV.                      13
	        
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