Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

194 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 14.) 
asien versäumt hat. Ob es aber dazu notwendig ist, daß ihr die Aegäischen 
Inseln überlassen werden, die fast ausschließlich von Griechen bevölkert 
sind, ist doch sehr die Frage. Man sollte sich an das Beispiel Kretas er- 
innern und es sich zur Lehre dienen lassen. Was hat man alles getan, um 
Kreta bei der Türkei zu erhalten, um die Eigenliebe der Türkei nicht zu 
verletzen! Und was hat man der Türkei damit genützt? Gar nichts. Man 
hat der Türkei nicht genützt und auch den Griechen nicht; man hat auch 
ier nur Reibungsstoff übrig gelassen, bis die Umstände schließlich dahin 
geführt haben, daß Kreta jetzt dort ist, wo die Bevölkerung Kretas hin- 
gestrebt hat: bei Griechenland. Das wird auch mit den Aegäischen Inseln 
der Fall sein. Darum sind wir dafür, daß, wenn hier einmal eine Lösung 
getroffen wird — die Frage steht doch so, daß die Mächte in Europa in 
der Lage sind, neue Zustände herzustellen — diese Lösung auf der Basis 
des Willens der Völker, ihrer nationalen Beschaffenheit und ihrer Bestrebungen 
geschieht und nicht auf der Basis der Mächteverhältnisse. Dann ist aber 
noch ein anderes Wort über die Türkei in Kleinasien und Asien zu sprechen. 
Wenn sich das türkische Regierungssystem und die Regierungspraxis nicht 
ändern, dann wird der Bestand der Türkei in Kleinasien und Asien nicht 
mehr gesichert sein, als er es in Europa war. Es klingt ja sehr schön, 
wenn vom Regierungstisch — ich glaube, vom Herrn Staatssekretär — er- 
klärt worden ist, daß man für die Integrität der armenischen Gebiete der 
Türkei eintreten werde. Nun, es ist niemand unter uns vorhanden, der 
daran Anstoß nimmt. Aber wenn einmal neu geregelt wird, dann sollten 
die Mächte doch darauf bestehen, daß endlich einmal die armenische Frage 
ihre Regelung findet, daß endlich einmal den Wünschen der armenischen 
Staatsangehörigen oder Untertanen der Türkei Rechnung getragen wird. 
Die Türkei hat seit dem Berliner Vertrage von 1878 auf Grund des Art. 61 
die Verpflichtung, in Armenien geordnete Zustände zu schaffen, die der 
Bevölkerung eine Selbstverwaltung lassen und sie gegen Gewalttaten der 
Kurden und Gewaltakte der Beamten sichern. Die armenische Bevölkerung 
erstrebt keine Loslösung von der Türkei, sie verlangt nicht einmal pro- 
vinzielle Autonomie. Ihre Forderungen sind so bescheiden wie nur möglich, 
und trotzdem sind sie nicht verwirklicht worden. Wer die Schuld daran 
trägt, daß sie nicht verwirklicht worden sind, das sind die beiden Länder 
Rußland und Deutschland. 
                Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (Z.): Es ist ja 
überhaupt nicht sehr dankbar, heute über die auswärtige Politik zu sprechen; 
denn über das, was uns am meisten interessiert, nämlich die Fragen, 
die mit dem Balkankrieg zusammenhängen, und die Entwicklung der 
neugewachsenen Balkanstaaten hat der Reichstag schon in der vorigen 
Woche verhandelt. Nur einen Punkt möchte ich herausgreifen. In franzö- 
sischen Zeitungen — in russischen natürlich auch — ist den Großmächten 
der Vorwurf gemacht worden, sie hätten die den Kriegführenden zugesicherte 
Neutralität verletzt, indem sie Montenegro und Serbien zu zwingen suchten, 
von der Belagerung Skutaris zurückzutreten. Ich glaube, daß wir gegen 
diese Auffassung ganz entschieden protestieren müssen. Denn bei der Be- 
lagerung von Skutari in den letzten Wochen handelte es sich nicht mehr 
um einen Kampf gegen die Türkei, sondern um einen Kampf gegen Al- 
banien. Wenn auch Skutari von einem türkischen Befehlshaber und einer 
türkischen Besatzung verteidigt wird, so ist es doch für die Zukunft der 
Türkei vollständig gleichgültig, ob Skutari fällt oder nicht. Das ist ganz 
außer Zweifel, daß Skutari nicht türkisch bleiben wird. Die Frage kann 
nur so gestellt werden, wird nur so gestellt: wird Skutari albanisch, oder 
fällt es Montenegro zu? Der Balkanbund hatte selbst die Forderung auf-
	        
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