Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Besche, Reich und seine eimelnen Glieder. (April 14.) 195 
gestellt „der Balkan den Balkanvölkern“, und die europäischen Großmächte 
haben sich mit dieser Formel zufrieden gegeben, nachdem sie die zuerst auf- 
gestellte Theorie des Statusquo notgedrungen bald verlassen mußten. Dann 
muß aber auch Albanien den Albanesen gehören. Montenegro und Serbien 
verletzten also diese ihre eigene Theorie, indem sie eine der ganzen Be- 
völkerung nach albanische Stadt dem Balkanvolk der Albaner fortnehmen 
und sich selbst einverleiben wollten. Sie verletzten ihre eigene Forderung 
und die Europas. Und dann der Kampf des Kreuzes gegen den Halbmond, 
diese Fahne, unter der die Balkanvölker in den Streit gezogen sind! Meine 
Herren, wenn man die Berichte über die Niedermetzelung der christlichen 
Bevölkerung in den Balkanstaaten liest, wenn man liest, wie mit Feuer 
und Schwert ganze Gemeinden zum Uebertritt von einem christlichen Be- 
kenntnis zum anderen gezwungen werden, wenn dort Christen gemartert 
werden wie zu Diokletians Zeiten, nur mit dem Unterschied, daß es dies- 
mal selbst Christen sind, die als Henkersknechte auftreten, dann möchte man 
diesen Wahlspruch vom Kampf des Kreuzes gegen den Halbmond beinahe 
als Blasphemie bezeichnen. Bei der ersten Beratung des Etats des Aus- 
wärtigen Amts, Anfang Dezember, konnte ich namens meiner politischen 
Freunde erklären, daß wir der Politik der Reichsregierung zustimmten, 
welche, bei starkem Eintreten für die Bundesgenossen, der Erhaltung des 
schwer bedrohten Weltfriedens diente. Damals saß Herr v. Kiderlen-Wächter 
auf dem Platze, den heute Herr v. Jagow einnimmt; und ich spreche mehr 
als ein persönliches Gefühl aus, wenn ich dem schmerzlichen Bedauern Aus- 
druck gebe, daß dieser kraftvolle Staatsmann dem Dienste des Reichs so 
früh entrissen wurde. Aber mit Befriedigung kann ich feststellen, daß die 
Entwicklung, welche die äußere Politik der Reichsregierung seit jener Zeit 
genommen hat, uns nicht veranlaßt, von dem Ausdruck unserer Zustimmung 
etwas zurückzunehmen. 
Abg. Freiherr v. Richthofen (Nl.): Die entgegenkommende Haltung, 
die der Herr Staatssekretär in der Budgetkommission eingenommen hat, 
hat uns in gewisser Beziehung — das sage ich ganz offen — die prinzipielle 
Zustimmung zu den Wehrvorlagen ganz wesentlich erleichtert. (Sehr richtig! 
bei den Nl.) Es ist oft ausgesprochen worden, daß in unserem Volke die 
Idee herrscht, daß, wenn unsere auswärtige Politik manchmal mit mehr 
Erfolg gearbeitet hätte, wir vielleicht keine Wehrvorlagen in diesem Umfange 
nötig gehabt hätten. Daher kommt eine gewisse Verquickung dieses Gegen- 
standes mit den Wehrvorlagen. Ich würde es somit freudig begrüßen, wenn 
der Herr Staatssekretär die entgegenkommende Erklärung, die er uns in der 
Budgetkommission gegeben hat, auch hier im Plenum des Hauses vor der 
Oeffentlichkeit noch einmal wiederholen würde. Ich glaube, das kann auch 
für die Behandlung anderer Fragen nur von Nutzen sein. Wir konstatieren 
es mit Befriedigung, daß ein gewisses größeres Maß von Offenheit seitens 
der Reichsbehörden auch in der auswärtigen Politik gegenüber dem 
Reichstage eingetreten ist, und daß sich ein stärkeres Verhältnis des Ver- 
trauens in der Beziehung anzubahnen scheint. Andere Regierungen äußern 
sich ja jetzt auch recht offen. Denken Sie nur an das Communiqué, das 
die russische Regierung vor einigen Tagen veröffentlicht hat. Deutlicher 
über seine Ziele und über dasjenige, was man getan hat, kann man sich 
nicht gut äußern, als es hier die russische Regierung getan hat. Ich erkenne 
auch durchaus an, daß der Herr Reichskanzler in seiner letzten Rede klar 
und deutlich zu uns gesprochen hat; ich glaube aber, daß das auch weiter- 
hin unbedingt notwendig ist; denn wir brauchen gerade bei Fragen der 
auswärtigen Politik, in denen die Leitung der auswärtigen Politik von dem 
Vertrauen des Volkes getragen sein muß, eine offene Aussprache. Zu den 
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