Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

200 Vas Dentsqhe Peich und seine einzelnen Glieder. (April 16.) 
Parteigenossen von dem Vorkommnis zu unterrichten. Herr v. Dallwitz 
kann über nationales Empfinden nicht objektiv urteilen. hat auch be- 
hauptet, daß der französische Redner über die deutschen Rüstungsvorlagen 
habe sprechen wollen. Wäre es so, dann wäre das Vorgehen gegen ihn 
auch nicht berechtigt. Tatsächlich hat der französische Redner kein Wort 
gegen die deutschen Rüstungen sprechen wollen, sondern über den franzö- 
sischen Chauvinismus. Er wollte für den Frieden zwischen Deutschland 
und Frankreich wirken. Dieser Vorfall macht Deutschland keine Ehre und 
bedeckt uns vor dem In- und Ausland nur mit Spott. Die Lebensmittel- 
teuerung hält an und beeinträchtigt nach wie vor die Ernährung des Volkes. 
Die Löhne sind freilich gestiegen, aber die agrarische Wirtschaftspolitik macht 
alles wieder zunichte. Die Regierung sollte in der Zoll- und Steuerpolitik 
dem Beispiel der Vereinigten Staaten folgen. Die Steuerpolitik des Reichs 
ist zwar unter dem Druck der Ereignisse besser geworden als im Jahre 1909, 
aber viel Staat kann mit ihr auch nicht gemacht werden. Das Problem 
der Probleme im Deutschen Reich ist die vollständige Abhängigkeit der Reichs- 
regierung von der preußischen Regierung. Wir haben Verständnis dafür, 
daß Preußen Einfluß und Macht haben muß, aber dieser Einfluß liegt nur 
bei den Oberschichten. Die wichtigste Aufgabe der Gegenwart ist daher die 
Reform des preußischen Wahlrechtes. Seit vielen Jahren steht diese 
Frage im Mittelpunkt der ganzen inneren Politik. Das preußische Wahl- 
recht soll der kulturellen Bedeutung der verschiedenen Stände entsprechen. 
Dann entspricht wohl der Bedeutung der Herrn Minister, daß sie hier in 
Berlin in der dritten Klasse wählen? (Heiterkeit.) Das Versprechen der 
Thronrede von 1908 ist unerfüllt geblieben. Die Notwendigkeit eines Mi- 
nisterverantwortlichkeits-Gesetzes wird immer dringender. Im November 
1908 hat Fürst Bülow dem Volk die feierliche Zusage gemacht, daß der 
Kaiser sich in seinen persönlichen Aeußerungen zurückhalten werde. Dieses 
Versprechen ist nie gehalten worden. In den letzten Wochen ist manche 
Aeußerung des Kaisers in weiten Kreisen unangenehm empfunden worden. 
Die Affäre mit dem Pächter Sohst ist ja erledigt worden. Diese Affäre 
erlaubt bedeutsame Rückschlüsse auf die ganze Regierungsart des Kaisers. 
Es besteht ein großes Interesse für die deutsche Oeffentlichkeit, was nun 
eigentlich mit dem Herrn v. Etzdorff geschehen wird, der doch als die ver- 
antwortliche Persönlichkeit in dieser Sache anzusehen ist. 
Reichskanzler v. Bethmann Hollweg: Ich will mich darauf be- 
schränken, auf einige Fragen des Vorredners zu antworten. Er hat sich 
nach dem Stande der Jesuitenfrage erkundigt. Seit ich im November 
vorigen Jahres gesprochen habe, ist das Novum eingetreten, daß der Reichs- 
tag einen Antrag auf Aufhebung des Gesetzes angenommen hat. Dieser 
Antrag liegt dem Bundesrat vor. Dieser hat noch keine Beschlüsse darüber 
gefaßt. Bei der Beratung des Antrages hier ist des weiteren debattiert 
worden über das Verhältnis des Reichsrechts zum Landesrecht. Um das 
aufzuklären, hat der Staatssekretär des Innern Rückfrage bei den Einzel- 
regierungen gehalten. Lediglich darauf bezieht sich die Rückfrage. Von 
einem Kuhhandel, den der Herr Vorredner an die Wand gemalt hat, ist 
mir nichts bekannt. Dann hat der Herr Vorredner zu den Vorgängen 
Stellung genommen, die mit der Ausweisung der französischen 
Sozialisten zusammenhängen. Die Einzelheiten der Vorgänge in Braun- 
schweig sind mir nicht bekannt. Wie mir der Herr braunschweigische Bundes- 
ratsbevollmächtigte mitteilt, hat auch er keine Kenntnis davon. (Großes 
Gelächter im ganzen Hause.) Man wird also gegenüber der Darlegung des 
Vorredners zunächst einmal abwarten müssen, wie die andere Seite sich 
dußert. Sachlich ist mein Standpunkt folgender: Wenn die Herren Sozial- 
 
	        
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