Das VBeutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 10.) 239
wenn England darauf verzichtet hätte, diese Schiffe zu bauen. Für die
jetzige Militärvorlage wurde als Begründung die Sorge angeführt, daß die
siegreichen Balkanstaaten sich nach Norden wenden könnten. Diese
Staaten müssen sich aber erst finanziell und durch Ersatz der Menschen-
verluste erholen, die Darlegungen des Reichskanzlers über die Gefahr des
Slawentums sind also absolut gegenstandslos. Außerdem hat sich die An-
nahme, daß die verbündeten Balkanstaaten allezeit zusammenstehen würden,
als irrig herausgestellt. Infolgedessen ist es nicht wahr, daß Oesterreichs
Kräfte nach Süden gefesselt sind. Deshalb wurde bald nach Einbringung
der Wehrvorlage ein Frontwechsel vorgenommen und behauptet, die Haupt-
efahr für uns käme von Osten. Aber der Kaiser und der Zar haben
ch in Berlin in den Armen gelegen und herzliche Küsse ausgetauscht. Bei
der Anwesenheit des Zaren haben unsere Garderegimenter in dichten Scharen
die Berliner Straßen besetzt, und für den Zweck, den Zaren zu schützen,
haben sie vollständig ausgereicht. Daß die freundschaftlichen Gefühle des
Zaren sich alsbald nicht wandeln werden, dafür wird schon die revolutionäre
Bewegung in Rußland sorgen. Deshalb nahm man abermals einen Front-
wechsel vor und behauptet jetzt, die Gefahr liege im Westen. Der Kriegs-
minister hat in der zweiten Lesung in der Kommission in Tönen gesprochen,
als ob die Situation im Westen sich aufs äußerste verbösert hätte. In
Frankreich hat die deutsche Heeresvermehrung ein wahres Rüstungsfieber
hervorgerufen. In Wahrheit haben also die Stärkeverhältnisse zwischen den
einzelnen Staaten eine nennenswerte Verschiebung nicht erfahren. So wird
auch diese unsere Heeresvermehrung eine Verschiebung der deutschen Macht-
stellung nicht hervorrufen. Aber in Frankreich ist eine außerordentlich ge-
fährliche chauvinistische Stimmung erzeugt worden. Von schwarzen Plänen
der Franzosen gegen uns ist nicht die Rede, aber Frankreich ist von banger
Sorge vor deutschen Angriffen erfüllt. Daß diese Sorge unberechtigt ist,
ändert daran nichts. Immer wieder wird in Frankreich in den letzten
Monaten mit Recht betont, daß es sich bei der Einführung der dreijährigen
Dienstzeit nur um Abwehrmaßregeln handelt. Kein französischer Minister
hätte es wagen dürfen, dem französischen Volke eine dreijährige Dienstzeit
zuzumuten, wenn nicht die deutsche Heeresvorlage gekommen wäre. Die-
jenigen Leute, die in Frankreich in den letzten Monaten besonderen Eifer
in ihrer Agitation für die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit
gezeigt haben, haben keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie die Sicher-
heit ihres Landes gefährdet glaubten durch die kolossale Vermehrung des
deutschen Heeres. In Frankreich hat man seither lediglich theoretische Er-
örterungen über die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit gehört.
Die Nachricht von dieser kolossalen Heeresvermehrung in Deutschland ist
für die gesamte bürgerliche Oeffentlichkeit geradezu verblüffend gewesen. Kein
Mensch hätte es vor einem Jahre für möglich gehalten, daß im Laufe
eines Jahres das deutsche Heer um 120000 Mann vermehrt werden soll.
In Frankreich kann aus dem Volk kein einziger Mann mehr herausgeholt
werden. Deswegen ist es in gewissem Grade verständlich, daß weite Kreise
in Frankreich mit Sorge erfüllt waren über die große Heeresvermehrung
in Deutschland. Die deutsche Regierung allein trägt die Verantwortung
für die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich. Hat
sich denn nun in Frankreich, nachdem die Wiedereinführung der dreijährigen
Dienstzeit vorgeschlagen worden ist, eine solche überschäumende chauvinistische
Regung geltend gemacht wie in Deutschland? Sind weite Volksklassen von
großer patriotischer Begeisterung getragen? Von solchen chauvinistischen
Regunzen ist bei dem französischen Volke nichts zu spüren gewesen. Da-
gegen kämpft die französische Sozialdemokratie mit bewunderungswürdiger