Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. Juni 14. 16.3 255 
reiche Regierung Sr. Majestät des Kaisers, für sein Wohl und für das 
Wohl des ganzen Kaiserlichen und Königlichen Hauses hegen, Ausdruck zu 
geben, indem Sie mit mir rufen: Seine Majestät der Deutsche Kaiser 
Wilhelm II., König von Preußen, er lebe hoch! (Die Anwesenden stimmen 
begeistert dreimal in diesen Ruf ein. Die Polen beteiligen sich an dem 
Kaiserhoch nicht.) — Abg. Schultz-Bromberg (Rp.): Herr Präsident, ich 
glaube, es entspricht der Stimmung, die uns alle beseelt, wenn ich den 
Antrag stelle, das Haus möge sich jetzt vertagen. (Allseitige Zustimmung.) 
— Präsident Dr. Kaempf: Dem Antrage wird nicht widersprochen, ich 
stelle das sest. Die Vertagung ist beschlossen. — Die Sozialdemokraten 
waren der Kundgebung sern geblieben. 
           14. Juni. (Reuß j. L.) Fürst Heinrich XXVII. von Reuß j. V. 
verfügt aus Anlaß des Regierungsjubiläums des Kaisers eine 
Amnestie, die Gefängnisstrafen bis zur Höhe von sechs Wochen, 
Haft und Geldstrafen einbeziehen soll. 
            14. Juni. (Hamburg.) Verschiebung des Stapellaufs des 
großen Kreuzers „Derfflinger“. 
Der kommandierende General des 17. Armeekorps von Mackensen 
hält im Auftrage des Kaisers die Taufrede. Wegen einer technischen Stö- 
rung ging das Schiff nicht zu Wasser, und da, während diese behoben 
wurde, die Ebbe eingetreten war, unterblieb der Stapellauf. 
           14. Juni. (Berlin.) Begründung des Preußenbundes in einer 
im Hause der Abgeordneten abgehaltenen Versammlung. 
            16. Juni. (Berlin.) Bei der Feier der Universität macht 
der Festredner Professor O. Hintze eine historische Mitteilung über 
des Kaisers Verfassungstreue: 
„Mit welcher Entschiedenheit sich der Kaiser von Anfang an auf den 
Boden der Verfassung gestellt hat, das erhellt aus einem bisher noch un- 
bekannten historischen Vorgang, den Seine Majestät Höchstselbst die Gnade 
gehabt hat, vor Jahren gelegentlich eines Empfanges mir mitzuteilen; und 
ich glaube, die mir damals zugleich erteilte Allerhöchste Ermächtigung, da- 
von Gebrauch zu machen, bei keiner besseren Gelegenheit benutzen zu können, 
als heute an dieser Stelle. Seine Majestät erzählte: Daß er von dem 
Justizminister und Kronsyndikus Dr. Friedberg in den letzten Stunden 
seines Kaiserlichen Vaters darauf hingewiesen worden sei, daß ihm sofort 
nach dessen Hinscheiden ein für diesen Fall bereit gehaltenes verschlossenes 
Schriftstück von großer Wichtigkeit vorgelegt werden würde: und in der 
Tat war dies das erste, was Seine Majestät auf Seinem Schreibtische vor- 
fand. Er öffnete es und erkannte sofort die charakteristischen Schriftzüge 
König Friedrich Wilhelms IV. mit vielen Unterstreichungen und Aus- 
rufungszeichen, wie dieser zu schreiben pflegte. Es war ein politisches 
Testament, das jedem Thronfolger beim Regierungsantritt vorgelegt werden 
mußte; und es enthielt eine in den stärksten und beweglichsten Wendungen 
gehaltene Mahnung, die Verfassung noch vor der Beeidigung umzustoßen. 
König Friedrich Wilhelm IV. hatte ja, wie man weiß, zeitlebens an dem 
Gedanken gehangen, die im Sturm und Drang des Revolutionsijahres ge- 
borene, von der Regierung zwar erst oktroyierte, dann aber aufs dem Wege 
der Vereinbarung mit der Volksvertretung revidierte Verfassung zu ersetzen 
durch einen aus Königlicher Machtvollkommenheit verliehenen Freibrief,
	        
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