Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

256 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 16.) 
der gar nichts von dem revolutionären Charakter moderner Konstitutionen 
haben sollte. Es war die Wurzel der vielfältigen Meinungsverschiedenheiten 
zwischen ihm und seinem Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel gewesen, 
daß dieser die Hand dazu nicht hatte bieten wollen. Nun hatte Friedrich 
Wilhelm IV. noch über seinen Tod hinaus auf seine Nachfolger ein zuwirken 
gesucht mit aller Macht, die ein Toter auf Lebende ausüben kann, um 
diesem Königswunsch in Zukunft doch noch einmal Erfüllung zu verschaffen. 
Kaiser Wilhelm II. hatte ebensowenig wie seine beiden Vorgänger irgend- 
welche Neigung, diesem Appell seines Königlichen Großoheims zu folgen; 
aber er ging weiter. Er erwog, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen 
sei, daß in Zukunft einmal ein junger unerfahrener Herrscher zur Regierung 
käme, auf den dieses Testament doch vielleicht einen verhängnisvollen Ein- 
druck hätte machen können: Und seitdem, sagte Seine Majestät, „war es 
mir, als ob ich ein Pulverfaß im Hause hätte, und es ließ mir keine 
Ruhe, als bis das Testament vernichtet war.“ Es wurde verbrannt und 
das Kuvert an das Königliche Hausarchiv abgegeben, mit der Bemerkung: 
Inhalt vernichtet“.“ 
         16. Juni. Gnadenerlasse. 
Der „Reichsanzeiger und Staatsanzeiger" veröffentlicht in einer 
Sondernummer folgende Gnadenerlasse aus Anlaß des Regierungsjubiläums: 
Ich bin gewillt, aus Anlaß Meines Regierungsjubiläums durch Erlaß oder 
Milderung von Strafen in weitem Umfange Gnade zu üben und beauftrage 
Sie deshalb, Mir in den dazu geeigneten Fällen Vorschläge zu Gnaden- 
erweisen zu unterbreiten. Diese Vorschläge sind vornehmlich auf solche Per- 
sonen zu richten, die zu ihren Straftaten durch Not, Leichtsinn, Unbesonnen- 
heit oder Verführung veranlaßt worden sind. Berlin, den 16. Juni 1913. 
Wilhelm R. Beseler. An den Justizminister. — Ich will aus Anlaß meines 
fünfund zwanzigjährigen Regierungsjubiläums den Militärpersonen, gegen 
die bis zum heutigen Tage im Bereiche der Preußischen Militärverwaltung 
Strafen im Disziplinarwege verhängt sind, diese Strafen, soweit sie noch 
nicht vollstreckt sind, in Gnaden erlassen. Ausgeschlossen von diesem Gnaden- 
erweise bleiben die wegen Beleidigung oder vorschriftswidriger Behandlung 
eines Untergebenen (§ 121 Militärstrafgesetzbuchs) verhängten Strafen. 
Berlin, den 16. Juni 1913. Wilhelm. von Heeringen. An das Rriegs- 
ministerium. — Ebenso für die kaiserliche Marine. — Gnadengeschenk 
für Kriegsteilnehmer. Ich will aus Anlaß Meines Regierungsjubiläums 
auch der Mitkämpfer aus großer Zeit gedenken und bewillige daher den 
Mir zu diesem Zwecke auf Meinen Befehl namhaft gemachten sechshundert 
Kriegsteilnehmern ein Gnadengeschenk von je fünfzig Mark. Ich beauftrage 
das Kriegsministerium, das Weitere unverzüglich zu veranlassen. Berlin, 
den 16. Juni 1913. Wilhelm. An das Kriegsministerium. 
         16. Juni. Der Kaiser läßt anläßlich seines Regierungsjubiläums 
dem Fürsten Bülow sein Bildnis in Form einer Porträtplakette 
zugehen, die dem Fürsten bei seiner Durchreise in Basel vom Kaiser- 
lichen Gesandten bei der Eidgenossenschaft überreicht wird. 
         16. Juni. (Reichstag.) Feier des Regierungsjubiläums des 
Kaisers. 
Bei dem Jubiläumsfestessen im Reichstage, an dem sämtliche bürger- 
liche Parteien teilnahmen, hielt Präsident Dr- Kaempf folgende Rede: „Als 
ich zur fünfundzwanziglährigen  Feier des Regierungsiubiläums des Raisers 
am Sonnabend im Reichstag eine Ansprache hielt, habe ich angeknüpft an
	        
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