Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

14 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 13.) 
wenden kann. Es liegt also nicht an der Finanzverwaltung, wenn Ver- 
zögerungen entstehen. 
Abg. Dr. Seyda (P.): Wenn der Abgeordnete v. Zedlitz ausgeführt 
hat, die Jesuitenkampftätigkeit sei auch jetzt noch ein Kampf gegen den 
Protestantismus, so ist er den Beweis dafür schuldig geblieben. Unsere 
Fraktion verurteilt aufs entschiedenste den Standpunkt der preußischen Re- 
gierung. Der Bundesratsbeschluß bedeutet nach unserem Dafürhalten zweifel- 
los eine Verschärfung des bestehenden Gegensatzes. Wenn der Reichskanzler 
sich auf angebliche geschichtliche Tatsachen berufen hat, daß das preußische 
Volk von jeher die Jesuiten als staatsfeindlich bekämpft habe, so verkennt 
er, daß das Empfinden eines Teiles des Volkes nicht dazu ausreicht, um 
das Empfinden des andern Teiles zu verletzen. Wir sind als Polen ja 
an Gewaltakte uns gegenüber gewöhnt. Das Verhalten der Regierung in 
der Jesuitenfrage ist nicht das einzige, was wir in religiöser Beziehung zu 
beklagen haben. Trotzdem bereits sechs Jahre der erzbischöfliche Stuhl in 
Gnesen unbesetzt ist, denkt die Regierung nicht daran, die Wahl des neuen 
Erzbischofs vorzunehmen. Wir empfinden dies als Zurücksetzung und gröb- 
liche Benachteiligung der Rechte der katholischen Kirche. Aber nicht nur 
die Zentralbehörde verletzt unsere religiösen Gefühle aufs gröbste, sondern 
auch die Verwaltungsorgane folgen diesem Beispiel. Der Regierungs- 
präsident in Posen hat den Boykott gegenüber den polnischen Kaufleuten 
von neuem in Erinnerung gebracht. Das ist ein unerhörter Mißbrauch der 
Amtsgewalt! Ich erkläre namens meiner Fraktion, daß wir zur Staats- 
regierung kein Vertrauen mehr haben, und wir haben beschlossen, bei der 
Gesamtabstimmung den Etat abzulehnen. 
Abg. Dr. Wiemer erinnert an das Versprechen einer Wahlrechts- 
reform. 
Minister des Innern v. Dallwitz: Die Gründe, welche die Re- 
gierung bewogen haben, von einer erneuten Einbringung einer Wahlrechts- 
vorlage in den letzten Tagungen abzusehen, sind von mir oft und eingehend 
dargelegt worden, daß ich sie wohl nicht zu wiederholen brauche. Sowohl 
1911 wie 1912 haben alle auf eine Aenderung des Wahlrechts abzielenden 
Anträge aus der Mitte dieses Hauses nicht die Zustimmung des Hauses 
gefunden. (Heiterkeit r.) Daraus ergibt sich zur Genüge, wie zutreffend 
unsere Auffassung gewesen ist, daß selbst im Falle einer erneuten Initiative 
der Regierung auf eine befriedigende, für die Regierung annehmbare Lösung, 
welche den von der Regierung aufgestellten und festgehaltenen Gesichts- 
punkten gerecht geworden wäre, nicht hätte gerechnet werden können. Wenn 
der Abgeordnete Wiemer heute und besonders bei der Beratung des Wahl- 
rechtsantrages Aronsohn am 20. Mai vorigen Jahres der Regierung an- 
gesonnen hat, daß sie noch kurz vor den Wahlen unter allen Umständen 
eine Vorlage lediglich zur Abänderung des Wahlverfahrens im Sinne der 
für den Reichstag geltenden Bestimmungen einbringen solle, so wird der 
Abgeordnete Wiemer selbst kaum glauben, daß dieser Anregung Folge ge- 
geben werden könnte. 
            13. Januar. (Bayern.) Enthüllungen über den Versuch des 
Ministerpräsidenten v. Hertling, nach dem Tode des Prinzregenten 
Luitpold dem Prinzen Ludwig die Königswürde zu verschaffen. 
Nachdem der Zentrumsführer Lerno in öffentlicher Versammlung 
seine Partei gegen den Verdacht mangelnder Königstreue, der in der Ab- 
setzung des kranken Königs liege, verteidigt hatte, konstatierte die liberale 
„München-Augsburger Abendzeitung“", das Ministerium Hertling hätte in
	        
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