Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 28.) 271 
als wenn ihm ein Dachziegel auf den Kopf gefallen wäre. Denn nach dem 
Bekanntwerden der Militärvorlage erschien ein Artikel in der Zentrums- 
presse, der auf das eindringlichste vor deren Einbringung warnt. Es heißt 
in diesem Artikel, daß nach den Erklärungen der Regierung im Jahre 1911/12 
eine weitere Militärvorlage hier im Reichstag überhaupt keinen Platz habe, 
und daß sie im Volke Beunruhigung und Mißtrauen hervorrusen würde:; 
und das schrieb der Abg. Erzberger. Bei anderen war es auch so, die 
waren nur nicht so unvorsichtig, solche Artikel zu schreiben. Wie der Abg. 
Erzberger haben zuerst alle gedacht, sowohl in der Zentrumspartei wie in 
der Fortschrittlichen Volkspartei. Als sie aber erfuhren, daß es sich um 
eine wirkliche Vorlage handelt, die bereits im Rate der Götter beschlossen 
war, als sie den Säbel der Herren vom Generalstab im Foyer klirren 
hörten, sank der Mut des bürgerlichen Liberalismus zusammen. Ich will 
anerkennen, daß die taktische Situation sie schließlich zwang, umzufallen. 
Die Fortschrittliche Volkspartei ist ja vollkommen mit den Nationalliberalen 
versippt, anderseits ist die Zentrumspartei mit den Konservativen siamesisch 
verwachsen. Diese beiden Militärparteien, die Nationalliberalen und die 
Konservativen, waren zuerst die Beherrscher der ganzen Situation. Des- 
halb sagte man, es ist notwendig, daß diese Militärvorlage angenommen 
wird. Von den jetzigen Griechen sagt man, daß jeder Soldat ein mutiger 
Kerl sein müsse. Ich hoffe, daß in der Stunde der Gefahr, die aber 
hoffentlich niemals kommt, die deutschen Soldaten sich nicht einen Teil 
unserer Parlamentarier zum Vorbild nehmen, sonst könnte man sagen: 
Finis Germanine! Wir sollen umgelernt haben. Uns fällt das sehr schwer. 
Wir denken über den Militarismus und über die Vorlage genau so, wie ein 
großer Teil der bürgerlichen Abgeordneten vor einigen Monaten. Wir 
können nicht einsehen, daß die Verschiebung auf dem Balkan durch das 
Aufkommen einer neuen Großmacht, übrigens einer sehr merkwürdigen, 
uns dazu zwingt, 136000 Soldaten mehr haben zu müssen. Wenn man 
sagt, daß Frankreich über uns herfallen will, so wissen wir, daß dies un- 
wahr ist. Es wäre ebenso töricht, die französischen Chauvinisten ernsthaft 
zu nehmen, wie bei uns die Reden der Herren Keim und von Liebert als 
den Ausdruck des deutschen Volkes hinstellen zu wollen. Ebensowenig 
glauben wir an die überlegene Strategie Rußlands seit dem letzten grauen- 
haften Zusammenbruch. Gegen einen Redl würden uns 136000 Mann 
mehr auch nicht schützen. Aber man wollte ja nur verschleiern, daß es für 
diese Militärvorlage keine Gründe gibt. Man hat dem deutichen Volke 
und der Welt diese Vorlage einfach ins Gesicht geschlendert. Deutschland 
hat sich wieder einmal als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten er- 
wiesen. Dies ganze Vorgehen kann man nur mit dem von Agadir ver- 
gleichen, nur daß das jetzige viel kostspieliger ist. Alle Staaten rüsteten 
in dem Augenblick, wo wir diese unglückselige Militärvorlage zu beraten 
hatten. Wir stellen 136000 Mann mehr ein. Frankreich behält einen 
ganzen Jahrgang zurück, was für Frankreich eine Vermehrung des Heeres 
um mehr als 136000 Mann bedeutet. Frankreich will zudem seine schwarzen 
Truppen aus Afrika heranziehen, um das 19. Armeekorps in Afrika für 
Frankreichs Zwecke in Europa freimachen zu können. Wir könnten durch 
die Wehrhaftmachung unseres ganzen Volkes mit Frankreich in Ronkurrenz 
treten auf einem Gebiete, wo wir immer stärker sein müßten. Wir treten 
aber in Konkurrenz auf einem Gebiete, wo uns Frankreich auf lange die 
Stange halten kann, nämlich auf dem Gebiete der Friedenspräsenz. Durch 
die Zurückhaltung der Friedensklassen wird Frankreich stärker sein als 
Deutschland. General Keim hat gesagt, durch die Zurückbehaltung eines 
Jahrganges wird die Militärvorlage mehr als ausgehoben. Wie Major
	        
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