Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

272 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 28.) 
von Moraht haben auch andere Militärschriftsteller aus allen politischen 
Lagern festgestellt, daß diese Militärvorlage ein Schlag ins Wasser gewesen 
ist. Wir haben Frankreich einfach gezwungen, auch Maßnahmen zu er- 
greifen. Rußland baut große Eisenbahnen, die das Riesenreich übrigens 
auch so notwendig braucht, es baut seine Wege aus und wirft zwei Armee- 
korps an die Westgrenze. Außerdem hat es eine Militärvorlage von un- 
geheuren Dimensionen eingebracht. Wir haben erreicht, daß ganz Europa 
gegen uns rüstet, und daß wir schwächer sind als alle andern. Man hat 
gesagt, die Militärvorlage ist nur die Folge des Vorgehens Frankreichs. 
Das ist doch die schlimmste Unehrlichkeit, wie noch nie, die man ausgesprochen 
hat. (Präsident Kaempf: Ich nehme an, daß Sie hiermit nicht das deutsche 
Parlament gemeint haben.) Ich dachte gerade an das spanische Parlament. 
Deutschland hat Frankreich gezwungen und durch seine Maßnahmen erst 
an den Rand der Verzweiflung und Erschöpfung gebracht. In der fran- 
zösischen Kammer ist bei der Beratung der Heeresvorlage kein Wort ge- 
fallen, das man als kriegslüstern bezeichnen könnte. Von keiner Seite ist 
in Frankreich die Notwendigkeit der Offensive empfohlen worden, wie es 
der preußische Kriegsminister getan hat. In Frankreich wurde immer nur 
der Gedanke zum Ausdruck gebracht: wir wollen nicht die Besiegten sein, 
falls es wirklich einmal zum Losschlagen kommt. Ebensowenig wie wir 
gewillt sind, unser Vaterland preiszugeben, ebensowenig darf man dies von 
Frankreich erwarten. Wir werden jedenfalls alles tun, was in unseren 
Kräften steht, um einen Krieg zu verhüten. Denn wir wissen, daß jeder 
Krieg, mag er ausgehen, wie er will, ein furchtbarer Schlag für die euro- 
päische Kultur sein wird. Wir sind überzeugt, daß eine Wiederholung des 
Krieges von 1870/71 nicht nur außerhalb der politischen, sondern auch 
außerhalb der militärischen Möglichkeiten liegt. Wenn Sie immer von 
der Offensive sprechen, so lassen Sie ganz außer acht die enorme Wider- 
standskraft eines Volkes, das bis zum Aeußersten getrieben wird. Scharn- 
horst würde merkwürdige Augen machen, wenn er Ihre Militärvorlage 
sehen würde. Das war allerdings kein preußischer Junker, es war der 
Sohn eines Unteroffiziers. Er hatte mehr Verständnis als 99 Durchschnitts- 
junker zusammen. (Zurufe r.) Wenn ich von Junkern spreche, meine ich 
nur echte Junker. Ueber Scharnhorst heißt es heute am Schluß eines 
Feuilletons: Die sogenannten Patrioten von 1913 würdigen am hundertsten 
Todestage Scharnhorsts nur dessen Verdienste im Jahre 1813; was er im 
Jahre 1808 ins Auge gefaßt hatte, war dasselbe, was heute die Sozial- 
demokratie auf dem Felde der Landesverteidigung fordert. Nun gibt es 
aber bei uns zu Lande Leute, die an Revolten französischer Soldaten, die 
vereinzelt vorgekommen sind, ihre Hoffnungen knüpfen. Wir sehen darin 
die wahren Kräfte richtig verstandener Vaterlandsliebe. Es kann im übrigen 
gar keinem Zweifel unterliegen, daß die wahren Urheber der Soldaten- 
revolten in Frankreich hier sitzen. Mancher begreift es allerdings nicht so 
ganz schnell. Die französischen Soldaten revoltieren, weil die deutschen 
Abgeordneten vor dem deutschen Generalstab stramm stehen. Sie haben 
hier eine Reihe von Resolutionen eingebracht, die beweisen, daß auch Sie 
mit der Heeresverwaltung nicht ganz zufrieden sind. Aber alle diese Re- 
solutionen haben ja keinen Zweck, bei uns denken die leitenden Minister: 
lassen Sie das Parlament nur resolutionieren. General Keim hat ja auch 
gesagt, lassen wir sie nur schimpfen, wenn sie nur bewilligen. Ich erinnere 
nur an die tiefen Eindrücke, die die Emthüllungen meines Freundes Lieb- 
knecht hier hervorgerufen haben. Die hier angekündigte Untersuchungs- 
kommission ist bis heute noch nicht zusammengetreten. Noch ist nichts wider- 
legt von dem, was behauptet wurde, aber inzwischen hat Herr Krupp von
	        
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