Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 28.) 273
Bohlen-Halbach einen hohen Orden bekommen. Der Chef einer Firma, die
angeklagt ist vor dem ganzen deutschen Volke, daß sie in verbrecherischer
Weise versucht hat, sich von militärischen Geheimnissen Kenntnis zu ver-
schaffen, bekommt einen hohen Orden, bevor noch etwas aufgeklärt ist!
Sieht das nicht dem Eingreifen in ein schwebendes Verfahren verteufelt
ähnlich? Bevor irgendwelche Klarheit in die Sache gebracht ist, geschieht
das; das ist eine sehr charakteristische Erscheinung. Trotz aller Ihrer Un-
zufriedenheit mit der Heeresverwaltung machen Sie Ihre Verbeugungen
vor der Kommandogewalt und lehnen alle unsere Anträge auf gesetzliche
Bindung zur Beseitigung aller der Klagen ab. Sogar das Einjährigen-
privileg beseitigen Sie nicht durch Gesetz; damit 17000 Bourgeoissöhne
nur ein Jahr zu dienen brauchen, müssen 38500 arme Teufel von Haus
und Hof weggeholt und in die Kaserne gesteckt werden, damit sie einen
Ausgleich für dieses Privilegium schaffen. Ihre patriotische Opferwilligkeit
erscheint dadurch in merkwürdigem Licht. Nur bei der Kostenfrage haben
wir unseren Einfluß gebührend durchsetzen können. Die Arbeiterbevölkerung
ist diesmal vor indirekten Steuern verschont geblieben. 1907 zogen 43
Sozialdemokraten in den Reichstag ein, und 1909 wurden die Tabaks-
steuer, Streichhölzersteuer, Fahrkartensteuer usw. gemacht; 1912 kamen 110
Sozialdemokraten in den Reichstag, und nun haben wir die Besitzsteuer
und die Erbschaftssteuer. Am 10. Juli 1909 sagte hier der Abg. v. Heyde-
brand, daß seine Freunde in der Erbschaftssteuer nichts anderes sehen als
eine allgemeine Besitzsteuer, und daß sie eine solche nicht in die Hände
einer auf gleichem Wahlrecht beruhenden Körperschaft legen wollten. Es
wäre sehr schön, wenn der Abg. v. Heydebrand diese Rede heute nochmals
halten würde. Wir Sozialdemokraten sind heute die Besiegten. Wir Sozial-
demokraten sind uns treu geblieben und werden uns treu bleiben. Wir
halten durch, bis unsere Grundsätze zur Anerkennung gelangt sind. Sie
aber (nach rechts) haben sich preisgegeben. Sie haben allein dadurch, daß
Sie dem Wehrbeitrag zustimmen, sich preisgegeben. Sie haben zwar Ihre
Gesinnung nicht geändert, aber Sie haben nicht mehr den Mut, sich zu
Ihrer alten Anschauung offen zu bekennen, nachdem Ihnen der 12. Januar
1912 Dialektik eingepaukt hat. Die Demokratie der allgemeinen Wahlen
hat Sie belehrt, daß es so wie bisher, wie die Steuermacherei früher von
Ihnen betrieben ist, beim besten Willen nicht weiter betrieben werden konnte.
Aber nur in Ihrem steten Rückgang, in Ihrem Rückgang von Legislatur-
periode zu Legislaturperiode, für den wir nach besten Kräften arbeiten
werden, sehen wir die Gewähr dafür, daß das Prinzip der Deckung, das
jetzt zum ersten Mal bei der Militärvorlage in Anwendung kommt, das
Prinzip der direkten Besteuerung des Besitzes auch für die Zukunft gewahrt
bleibt. Das Volk wird, wenn es verhindern will, daß in Zukunft wieder
indirekte Steuern gemacht werden, und wenn es unter allen Umständen
verhüten will, daß Deutschland der agent provocateur für immer weitere
Rüstungen in der Welt bleibt, erkennen müssen, daß es noch viel besser
kommen muß als im Jahre 1912. Jetzt kommt es meines Erachtens viel
mehr auf das an, was uns bevorsteht, als auf das, was mit dem Abschluß
der Militärvorlage hinter uns liegt. Wenn Sie etwa glauben, daß wir
deshalb, weil wir hier in der Minderheit geblieben sind, in Sack und Asche
trauern würden, kennen Sie uns schlecht. Gerade jetzt erst werden wir
hinausgehen und arbeiten und das Volk immer weiter aufzuklären suchen
über das, was Sie bisher am Volk gesündigt haben. Wir wissen, daß ein
Berg von Hindernissen vor uns aufgetürmt ist; wir wissen, daß wir auf
ungebahnten Wegen dem großen Menschheitsideal, das wir erstreben, ent-
gegengehen müssen. Wir haben es nicht so leicht wie die, die auf der
Europäischer Geschichtskalender. LIV. 18