Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

20 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 13.) 
lichkeit als gebrandmarkt wegen irgendeiner Verfehlung dasteht, in seinem 
späteren Fortkommen erhebliche Erschwerungen erfahren kann. Daß man 
in den Jugendgerichten den Zutritt zur Verhandlung den Jugendlichen 
allgemein untersagt, ist eine sehr verständliche Maßregel. Kriminalstudenten 
jugendlichen Alters lernen aus den Gerichtsverhandlungen nur immer das 
Schlechte heraus. — Der Entwurf wird einer Kommission von 28 Mit- 
gliedern überwiesen. 
Abg. Fischer (Sd.): Das ist überhaupt der hervorstechendste Zug 
unserer ganzen Reichspolitik. Nicht was das Reichsinteresse erfordert, nicht 
was der Reichstag einstimmig oder in seiner Mehrheit von der Regierung 
wünscht und verlangt, ist für die Reichsregierung entscheidend und maß- 
gebend. Entscheidend und maßgebend ist einzig und allein der Wille 
Preußens; und da in Preußen das Junkertum in seiner Reinkultur, das 
rassenreine Ostelbiertum in der Regierung herrscht, so ist natürlich auch für 
die Reichsregierung einzig und allein der Wille des preußischen Junkertums 
maßgebend und entscheidend. Ich glaube nicht, daß sich jemals seit Gründung 
des Reichs eine Regierung in solch beschämender Abhängigkeit von Preußen 
befunden hat wie die gegenwärtige Reichsregierung. (Sehr richtig! b. d. Sd.) 
Fast wie ein Reichsbettler muß die Reichsregierung an die preußische Re- 
gierung herantreten und dort petitionieren und deklarieren; und das geht 
herunter bis auf solche Bagatellen wie die Frage der Einführung einheit- 
licher Wahlurnen im Reiche. Einstimmig hat der Reichstag seinerzeit einen 
solchen Wunsch an die Regierung gerichtet, und ich glaube, die Reichs- 
regierung würde diesen kleinen Wunsch auch ganz gern erfüllen; aber sie 
darf nicht, der preußische Polizeiminister erlaubt es nicht, er hat „grund- 
sätzlichen Widerspruch“ erhoben, er ist besorgt für die Wahlinteressen der 
preußischen Konservativen. Der Herr Staatssekretär Delbrück scheint ja 
förmliche Bittgänge zu Herrn v. Dallwitz haben machen müssen, er möge 
doch jetzt seinen Widerstand aufgeben, da ja jetzt auch die Konservativen 
sich an der Kundgebung des Reichstags vom 21. Mai 1912 beteiligt hätten; 
die Reichsregierung könne dieser Forderung des Reichstags gegenüber eine 
völlig ablehnende Haltung nicht einnehmen (hört! hört! b. d. Sd.); er, der 
Staatssekretär des Reichsamts des Innern, habe ganz im Sinne des Votums 
des preußischen Herrn Ministers des Innern die praktischen Schwierigkeiten 
im Reichstage dargelegt; aber da nun einmal das geheime Wahlrecht 
bestehe — das geheime Wahlrecht, das der preußische Minister so gar 
nicht verknusen kann —, so müsse doch auch alles geschehen, um eine Ver- 
letzung des Wahlgeheimnisses usw. zu verhindern. Also, der Reichsstaats- 
sekretär — vielleicht darf ich den Ausdruck gebrauchen — muß im Reichs- 
tage nach dem Votum des preußischen Polizeiministers, vielleicht sogar 
wider seine eigene bessere Ueberzeugung, polemisieren und argumentieren. 
Meine Herren, ist das nicht eine für das Reich geradezu beschämende 
Tatsache? 
Staatssekretär des Innern Dr. Delbrück: Der Herr Abgeordnete 
Fischer hat sich in seinen Ausführungen sätzeweise auf ein Votum gestützt, das 
ich in meiner Eigenschaft als preußischer Staatsminister an das preußische 
Staatsministerium gerichtet habe; er hat also hier ein Material benutzt, das 
nur durch einen groben Vertrauensbruch in seine Hände gelangt sein kann. 
Ich muß mich dagegen verwahren, daß Material, das in dieser Weise in 
die Hände von Mitgliedern des Reichstags gelangt, in der Debatte gegen 
die Regierung verwandt wird; ich muß mich dagegen verwahren in Ihrem 
und in unserem Interesse. Es entspricht nicht der Achtung, die wir vor 
Ihnen haben, und der Achtung, von der wir hoffen, daß Sie sie vor uns 
haben, wenn Sie uns mit so gewonnenem Material bekämpfen.
	        
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