Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

22 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 15.) 
dem Gebiete der Stellenvermittlung, Maßnahmen zur besseren Verteilung 
der Arbeiter innerhalb der verschiedenen Distrikte des Staates, — also ein 
zentralisierter Arbeitsnachweis. Ferner wird besonders die Koalitions- 
freiheit als etwas Notwendiges gefordert. — Ich bemerke dazu in Parenthese, 
daß, soweit ich unterrichtet bin, das bei uns seit dem Jahre 1899 auf- 
gehobene Verbot für Vereine und Gewerkschaften, miteinander in Verbindung 
zu treten, in Amerika heute noch besteht und zwar wird meines Wissens 
die Sherman Act gegen derartige Verbindungen angewendet. — Es wird 
weiter ein selbständiges Arbeitsamt verlangt. Meine Herren, wenn Sie sich 
diese Forderungen ansehen, so werden Sie mir zugeben müssen, daß die 
Mehrzahl dieser Forderungen bei uns, wenn nicht erfüllt, so doch in An- 
griff genommen ist und erfolgreich weiter gefördert wird. Daraus ergibt 
sich für uns die interessante Tatsache, daß auf sozialpolitischem Gebiete, in 
der Fürsorge für die Arbeiter und die arbeitenden Klassen in dem republi- 
kanischen Nordamerika, in dem klassischen Lande der individuellen Freiheit, 
alles das noch nicht geschehen ist und erst geschehen soll, was wir in Deutsch- 
land mit unseren angeblich rückständigen Staaten und rückständigen Ver- 
fassungen bereits geschaffen haben. Also, meine Herren, ich haben den Ein- 
druck, die Behauptung ist unrichtig, daß die staatsrechtliche Organisation 
des Deutschen Reichs, die Mangelhaftigkeit seiner Regierungen und der 
Regierungen der Bundesstaaten ein Hindernis für eine gesunde soziale Ent- 
wicklung gewesen sei. Der Vergleich, den ich eben gezogen habe, sollte in 
uns allen das Bewußtsein stärken, daß wir allen Anlaß haben, mit unseren 
heimischen Verhältnissen zufrieden zu sein, und daß unsere konstitutionellen 
Staatswesen, die den alten Staatsgedanken der absoluten Monarchie fort- 
entwickelt haben und mit diesem Staatsgedanken die Vorstellung in sich 
aufgenommen haben, daß der Staat ein hohes und großes Maß sittlicher 
Pflichten zu erfüllen hat, besser gearbeitet haben als diejenigen Staaten, 
die auf einer absoluten Freiheit des einzelnen aufgebaut sind, besser ge- 
arbeitet haben als das klassische Land der Unions, die Vereinigten Staaten 
von Nordamerika. In Verbindung damit möchte ich feststellen, daß auch 
die verbündeten Regierungen Vorkommnisse wie das Auftreten des Herrn 
Abgeordneten Wetterlé im Auslande mit Ihnen schwer empfinden. (Bravo! 
r. und l.) Ich will hier in diesem Hause keine Kritik üben an dem Ver- 
halten eines Mitgliedes dieses Hauses; aber, meine Herren, ich danke allen 
denen, die so entschlossen und deutlich gestern und heute ihre Abneigung 
gegen ein derartiges Treiben Ausdruck gegeben haben. 
15. Januar. (Elsaß-Lothringen.) Beginn der Etatsdebatte 
der Zweiten Kammer. 
Unterstaatssekretär der Finanzen Köhler bringt den Etat ein. Abg. 
Martz (Z.) erkennt an, daß die äußere Einteilung des Etats, die reinliche 
Abgrenzung des außerordentlichen vom ordentlichen Etat, einen gewissen 
Fortschritt bedeute, tadelt aber, daß die vorjährigen Resolutionen der 
Zweiten Kammer bei der Aufstellung des diesjährigen Etats so ganz außer 
Acht geblieben seien. Wieder fallen dabei Worte wie „Gnadenfonds", „Kaiser- 
jacht“", „Repräsentationskosten“ usw. Abg. Jung (Lothr.) wirft Preußen 
wegen seiner Haltung in der Moselkanalisierung krasse Selbstsucht und Heu- 
chelei auf patriotischem Gebiete vor und spricht dem Präsidenten des Ober- 
schulrats das warme Herz für die Schule und jeden Einfluß in seinem 
eigenen Ressort ab. — Abg. Fuchs (Sd.) geißelt scharf die Schulverwaltung, 
spricht über die hohen Fleischpreise und schließt mit der Versicherung, daß 
die Sozialdemokraten einem solchen Klassenstaate ein derartiges Budget nicht 
bewilligen würden.
	        
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