Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Bas Beische Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 3.) 379 
bis es schließlich so weit kam, wie es in den letzten Tagen gekommen ist. 
Nur so war es auch möglich, daß in der Instruktion die Fahnengeschichte 
passieren konnte. Diese Aeußerung wurde nicht nur in Elsaß-Lothringen, 
sondern auch in altdeutschen Kreisen mißbilligt, in denen man Wert auf 
ein gutes Verhältnis zu Frankreich legt. Die Bevölkerung in Elsaß- 
Lothringen fühlt in ihrer überwiegenden Mehrheit deutsch und lehnt eine 
gewaltsame Aenderung des jetzigen Zustandes bewußt ab. Sie glaubt aber 
nicht, daß es unbedingt notwendig sei, daß ewige Gegensätze zwischen 
Deutschland und Frankreich bestehen, und sie begrüßt darum alles, was 
zur Annährung der beiden Kulturnationen dienlich ist, und verurteilt alles, 
was Haß und Zwietracht zwischen ihnen säen kann. Auch diesen Moment, 
wo es noch möglich gewesen wäre, gegen den Leutnant eine Untersuchung 
zu eröffnen, die ihn von den Straßen Zaberns ferngehalten hätte, hat man 
vorübergehen lassen, und der Herr Leutnant promenierte weiter in den 
Straßen der Stadt. Die ganze Weisheit der Militärbehörde bestand darin, 
daß sie nach dem Staatsanwalt rief. (Zuruf: Der wurde ja verhaftet! — 
Große Heiterkeit.) — Zunächst hat sie nach dem Staatsanwalt gerufen, 
und zwar gegen die Presse, die die Sache in die Oeffentlichkeit gebracht 
hatte; die konnte sic wahrscheinlich nicht selbst verhaften. Der Gang der 
Dinge nahm die programmäßige Fortsetzung. Zunächst wurden die elsässi- 
schen Rekruten eingesperrt und versetzt, der ältere Jahrgang der Elsässer, 
der in Zabern blieb, wurde verhaftet; auch der Feldwebel, der auch 
Elsässer ist, wurde verhaftet, weil man an ihm zweifelte und meinte, 
daß er da etwas verraten haben könnte. Nur der Leutnant, der Ur- 
heber der ganzen Sache, blieb da. Der Herr, der inzwischen durch Be- 
kanntwerden eines Mißgeschicks im Manöver der Lächerlichkeit verfallen 
war, mußte weiter bleiben, wahrscheinlich zur höheren Zierde und zur 
Wahrung des Prestige eines unbeugsamen Uebermilitarismus; und so gab 
er die weitere Veranlassung zu all den traurigen Vorkommnissen, die später 
noch erfolgt sind. M. H., es gibt Momente, wo ein Volk gegen erlittenes 
Unrecht nicht mehr protestiert, wo jeden ein Gefühl der Leere und des 
Verlassenseins beschleicht, wo auch dem Letzten im Volke klar zum Bewußt- 
sein kommt, daß unsere Geschicke letzten Endes von Leuten dirigiert und 
beeinflußt werden, die uns nicht verstehen und die uns nicht verstehen 
wollen. Das sind die Momente, wo sich dann Trennungswände aufrichten, 
und wo Menschen, die bisher freundschaftlich verkehrten und die einander 
geachtet haben, sich mit Mißtrauen begegnen und sich womöglich wieder 
trennen. Was in solchen Tagen an Gefühlswerten verloren geht und ab- 
stirbt, das ist einfach ungeheuer. Und nun weiter. Zuletzt hat man Leute 
verhaftet, weil sie gelacht haben sollen. Der Höhepunkt dieser traurigen 
Erscheinung, dieses Rechtsbruchs, wurde am Freitag den 28. November er- 
reicht. Ich war am Samstag selbst in Zabern. Ich habe teilweise mit 
den Verhafteten gesprochen. Die Nachrichten, die ich da erhalten habe, sind 
haarsträubend gewesen. Unter den Verhafteten, die mit Kolbenstößen nach 
der Wache geschleppt worden sind, die zum Teil unmenschlich behandelt 
worden sind, befand sich nach meiner Feststellung am Samstag morgen ein 
Schreinermeister Levy. Er war früher städtischer Feuerwehrmann. Er 
hörte das Trommeln auf dem Schloßplatze und glaubte, es brennt irgendwo. 
Er läuft auf die Straße, und als er vor das Haus tritt, soll er verhaftet 
werden. Er springt ins Haus zurück, und vier Musketiere mit auf- 
gepflanztem Seitengewehr verfolgen ihn bis in den dritten Stock in seine 
Wohnung. Seine alte Mutter — 78 Jahre alt — tritt den Soldaten ent- 
gegen, und sie halten ihr die vier Bajonette vor die Brust. Die Frau 
wurde ohnmächtig. Der Mann wird heruntergeschleppt und nach der Kaserne
	        
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