Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

396 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 4.) 
ich jeden Tag. Sie können versichert sein, diese Vorwürse gehen mir nahe. 
Und, m. H., wie sind denn die Dinge! Gewiß, es wird manchen Altelsässer, 
manchen Altdeutschen geben, die beide in Uebereinstimmung ihre besten 
Kräfte dafür einsetzen, das Reichsland enger mit dem Reiche zu verschmelzen, 
und die mit mir viele unerfreuliche Erscheinungen beklagen. Ich leugne 
diese Erscheinungen nicht, ich warne nur davor, aus einem post hoc ein 
propter hoc zu machen. Wir haben vor der Verfassung leider eine Fülle 
von unerfreulichen Dingen gehabt, die kein Mensch hat erwarten können. 
Es war nicht zu erwarten, daß mit der Einführung der Verfassung eine 
große Verselbständigung des Landes eintrat, eines Landes, das jahr- 
hundertelang unselbständig zwischen zwei Nationen hin- und hergezerrt 
wurde. Wenn wir vorwärts kommen wollen, müssen wir eine ruhige und 
feste Hand in der Politik zeigen. Wir müssen Ausdauer und Geduld zeigen. 
M. H., es ist gestern hier in leidenschaftlichem Ton das Wort gesprochen 
worden, jetzt sei in Elsaß-Lothringen alles vernichtet, was in Jahrzehnten 
geschaffen worden ist. M. H., ich kann mich nicht zum Träger eines solchen 
Pessimismus machen. In einer ernsten Stunde — und wir stehen in einer 
ernsten Stunde — müssen wir den Blick auf die Zukunft richten. M. H., 
ich nenne die Stunde ernst, nicht etwa weil meine Stellung hier gefährdet 
wäre oder weil die Herren gestern die Mißbilligung gegen mich beantragt 
haben und nachher beschließen werden. M. H., deshalb nenne ich die Stunde 
nicht ernst. Ich nenne die Dinge ernst, weil sich aus der tiefen Erregung 
die Gefahr ausgetan hat, daß eine Kluft zwischen Armee und Volk ge- 
schaffen wird. Weil ich diesen Ernst erkannt habe, habe ich Ihnen gestern 
ausdrücklich und absichtlich gesagt, daß die erste Aufgabe wäre, eine Har- 
monie zwischen Militär= und Zivilverwaltung herzustellen. (Abg. Ledebour 
ruft: „Harmonie mit dem Kriegsminister?") M. H., ich befinde mich in 
vollem Einvernehmen mit dem Herrn Kriegeministe. (Stürmischer Beifall 
r, langandauernder Lärm l. Der Kriegsminister verbeugt sich gegen den 
Reichskanzler. Glocke des Präsidenten. Der Lärm legt sich nur langsam.) 
M. H., ich spreche dies ausdrücklich aus, weil der Herr Abgeordnete Lede- 
bour mir hierzu die Veranlassung gab. Deshalb, sage ich, habe ich gestern. 
ausdrücklich und mit Absicht gesagt, die Herstellung dieser Harmonie sei die 
Hauptaufgabe für die Zukunft, und das ist keine Redensart. Ich wieder- 
hole das heute noch einmal. Wenn gestern hier auf eine Nebenregierung 
hingedeutet wurde, so betone ich Ihnen noch, Nebenregierungen existieren. 
nicht. Nein, m. H. Es existiert eine Hauptregierung, für die ich dem Kaiser 
verantwortlich bin. Und wenn ich diese Verantwortung nicht mehr tragen 
zu können glaube, so werden Sie mich nicht mehr auf diesem Platze sehen. 
Aber, m. H., ich wiederhole, in diesem Falle ist von einer Nebenregierung 
nicht die Rede. Alle maßgebenden Instanzen sind darin einig, daß ohne 
ein vertrauenvolles Zusammenarbeiten von Militär und Zivil, wie es 
leider in Zabern gefehlt hat, nichts gebessert werden kann. Und dieser 
Gesichtspunkt ist von der obersten Stelle den beteiligten Behörden und 
Beamten im Anschluß an die Vorgänge in Zabern wiederholt und nach- 
drücklich ins Gewissen geschrieben worden. (Bewegung und Unruhe. 
Glocke des Präsidenten.) Es ist selbstverständlich, daß der kommandierende 
General die MWeisung hat, dafür zu sorgen, daß nirgends das Gesetz 
überschritten wird, und es ist ebenfalls selbstverständlich und beruht auf dem 
Willen der allerobersten Stelle, daß Militär= und Zivilbehörden Hand in 
Hand gehen unter voller Wahrung der gegenseitigen Kompetenzen, unter 
voller Wahrung von Gesetz und Recht. M. H., was in der Vergangen- 
heit gefehlt worden ist — und ich habe gestern darüber gesprochen — 
es wird gerügt werden. Wir können für die Zukunft wiederherstellen,
	        
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