Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

418 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 
über die Geheimverträge auf dem Balkan, die Auseinandersetzungen des 
Ministers Grafen Berchtold über die Vorgänge an der österreichisch-russi- 
schen Grenze haben uns aufs neue gezeigt, wie auch während des zweiten 
Balkankrieges die Gefahr ernster Konflikte uns häufig genug nahe gewesen 
ist. Wir können uns nur dessen freuen, daß der Friede in der verflossenen 
Balkankrise erhalten geblieben ist. Mit Genugtuung begrüßen wir auch 
die Ausführungen des Herrn Reichskanzlers vom gestrigen Tage, in denen 
er darlegte, daß auch die Aufräumung der noch vorhandenen Reste von 
Konfliktsstoffen bei dem während der vergangenen Zeit so oft hervor- 
etretenen Bestreben der Großmächte, ihre Einigkeit zu erhalten, voraus- 
schtlich ohne weitere schwere Gefahren vorübergehen wird. Der Genug- 
tuung über die Erhaltung des Friedens kann sich auch derjenige hingeben, 
der auf dem Standpunkt steht, daß er nicht den Frieden um jeden Preis 
will, sondern nur dann, wenn es mit der Existenz, mit den Interessen, 
mit der Ehre des Reiches vereinbar ist. Diese Voraussetzungen der Er- 
haltung des Friedens sind — das wollen wir gern anerkennen — in der 
vergangenen Krisis erfüllt worden. Unsere Interessen bei den Balkan- 
auseinandersetzungen waren, wie oft genug ausgesprochen worden ist, weder 
unmittelbare, noch standen sie in erster Linie. Unsere Aufgabe bestand 
darin, die Bundesverträge zu halten und eine Bedrohung der Existenz un- 
serer Bundesgenossen nicht zuzulassen. Und das ist gelungen. Der Reichs- 
kanzler wies besonders darauf hin, daß wir auch bei der Politik, die wir 
der Türkei gegenüber eingeschlagen, des Einvernehmens und der Zu- 
stimmung Rußlands sicher sind. Ich darf hier aussprechen, daß meine 
politischen Freunde mit besonderer Befriedigung anerkennen, daß der Draht 
nach Rußland nicht nur nicht zerrissen ist, sondern daß der Reichskanzler 
gestern von freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland sprechen konnte. 
Wir wünschen, daß diese Politik fortgesetzt wird. Wir glauben, daß auch 
im fernsten Osten kein Anlaß zu einer Haltung unsererseits vorliegt, die 
den Draht nach Rußland etwa zerreißen lassen könnte. Besonders wichtig 
waren die Ansführungen, in denen der Reichskanzler mitteilte, daß Ver- 
handlungen mit England sowohl über Rleinasien wie über Afrika ins Werk 
gesetzt worden sind. Auch wir haben volles Verständnis dafür und volles 
Interesse daran, daß die wirtschaftlichen Interessen, die wir in Kleinasien 
haben, durch unsere auswärtige Politik in den bevorstehenden und schwebenden 
Verhandlungen mit England und Frankreich eine kraftvolle Unterstützung 
erfahren. Ueber die Verhandlungen wegen der afrikanischen Verhältnisse 
zu reden, ist wohl der Zeitpunkt nicht gekommen. Das eine aber möchte 
ich doch hervorheben, daß wir, selbst wenn der Reichskanzler es gestern 
nicht ausgesprochen hätte, doch auch unsererseits den Wunsch zum Aus- 
druck gebracht hätten, daß Kompensationen zwischen Asien und Afrika in 
diesen englischen Verhandlungen nicht stattfinden möchten. 
     Die Betrachtungen über unsere auswärtige Politik führen zu dem 
Ergebnis, daß wir vor einer erfreulichen Entspannung der ernsten aus- 
wärtigen Lage stehen, und wir hoffen, daß diese Entspannung auch für 
unser Wirtschaftsleben von segensreichem Erfolg sein wird. Da wirft sich 
nun die Frage auf, ist diese Entspannung nicht am Ende als ein Beweis 
dafür zu benutzen, daß wir mit der Wehrvorlage von 1913 über das Ziel 
hinausgeschossen seien. Diese Frage verneine ich und verneinen meine poli- 
tischen Freunde aufs allerentschiedenste. Die Vorgänge der Balkankrisis 
waren nach unserer Auffassung nicht eigentlich der Grund, die Ursache, die 
uns bewog, der Heeresvorlage zuzustimmen. Sie ließen nur als Symptom 
die Ursachen besonders deutlich hervortreten, die dauernder Natur sind, die 
Ursachen, die in unserer, wie der Reichskanzler sich gestern ausdrückte, zen-
	        
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